Darmstadt:Wie bei den Großen

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Neben Kunst wie auf der Mathildenhöhe bietet Darmstadt vor allem viele Arbeitsplätze, eine zentrale Lage und gute Bedingungen für Wissenschaftler. (Foto: Arne Dedert/dpa)

Mieter zahlen dort mehr als in den Metropolen Hamburg oder Düsseldorf. Das zeigt, dass die Wohnungsnot längst auch kleinere Städte erfasst hat - und welche Lösungen es gibt.

Von Annika Brohm

Stillstand war Großherzog Ernst Ludwig von Hessen zuwider, der letzte Monarch des Bundeslandes war für sein Streben nach Fortschritt bekannt. Sein Vorsatz: "Mein Hessenland blühe und in ihm die Kunst." Ludwigs Einfluss ist besonders in der damaligen Landeshauptstadt Darmstadt nach wie vor spürbar. Die von ihm gegründete Künstlerkolonie mit ihren Ateliergebäude und der Mathildenhöhe machen sie zu einer Stadt der Künste, zum Zentrum des Jugendstils. Und auch ansonsten blüht die Heimatstadt des Großherzogs zurzeit auf: Darmstadt ist eine der einkommensstärksten Städte Hessens, die Akademikerquote die höchste im Bundesland, immer mehr Menschen zieht es in die Wissenschaftsstadt im Rhein-Main-Gebiet. Und das macht sich auch auf den Immobilienmärkten bemerkbar. Käufer finden kaum bezahlbare Immobilien oder Grundstücke, Mieter zahlen Rekordpreise. Das Beispiel zeigt: Nicht nur Großstädte wie München haben mit den Folgen des eigenen Erfolgs zu kämpfen.

Flughafen, Bahnlinien und Berge begrenzen die Ausdehnung der Stadt

"Darmstadt ist nicht unbedingt eine Stadt auf den ersten Blick", sagt Michael Kolmer, Leiter des Amts für Wirtschaft und Stadtentwicklung in Darmstadt. "Aber sie ist definitiv eine Stadt, in der die Menschen gut und gerne leben." Der Dreiklang aus Wissenschaft, Hightech und günstiger Lage ist es laut Kolmer, was Darmstadt reizvoll macht. "Als Wissenschaftsstadt lockt Darmstadt mit attraktiven Jobangeboten", erklärt er, "vor allem Hochqualifizierte und junge Menschen kommen deshalb hierher." Das Pharmaunternehmen Merck hat in Darmstadt seine Konzernzentrale, im Europäischen Raumflugkontrollzentrum steuern 800 Mitarbeiter Weltraumprojekte, ein Viertel der Einwohner sind Studenten. In diesem Jahr gewann Darmstadt den Wettbewerb zur Digitalen Stadt, ausgeschrieben von dem IT-Branchenverband Bitkom und dem Deutschen Städte- und Gemeindebund. "In den nächsten Jahren soll sich Darmstadt zur beispielhaften Smart City entwickeln", sagt Kolmer. Im Juli hat das Projektmanagement-Team seine Arbeit aufgenommen, ab dem nächsten Jahr sollen erste Ergebnisse sichtbar sein. Die Vision: Verwaltungsgänge, die Suche nach freien Parkplätzen, sogar die städtische Abfallentsorgung soll in Zukunft durch digitale Anwendungen erleichtert werden. Eine siebenstellige Summe steht dem Projektteam dafür zur Verfügung - pro Jahr. Ein "Hotspot für Hightech" ist Darmstadt für Kolmer ohnehin jetzt schon. "Mitten in einer Metropolregion wie dem Rhein-Main-Gebiet ist das gleich doppelt interessant." Ebendiese günstige Lage inmitten des Ballungszentrums ist für Darmstadt Fluch und Segen zugleich: Sie trägt maßgeblich zur Attraktivität der Stadt bei, zieht mehr und mehr Menschen an - und erschwert gleichzeitig ein weiteres Wachstum. Richtung Norden hindert der Frankfurter Flughafen einen Ausbau der Stadt, im Westen sind es Autobahnen und Bahnlinien; im Süden und Osten die Ausläufer des Odenwalds. "Die Möglichkeiten einer Entwicklung in die Horizontale sind sehr begrenzt", erklärt Iris Behr vom Institut Wohnen und Umwelt in Darmstadt. "Wir müssen auf Innenentwicklung setzen."

Fest steht: Wohnungen werden dringend benötigt. Nach Angaben des Statistischen Landesamtes Hessens bleibt die Anziehungskraft Darmstadts wahrscheinlich auch in den nächsten Jahren ungebrochen. Im Vergleich zu 2014 wird demnach die Bevölkerungszahl bis 2030 um 15,5 Prozent steigen. Zu den derzeit knapp 175 000 Einwohnern würden dann etwa 15 000 weitere hinzukommen. Es wird eng in Darmstadt, die wenigen freien Flächen sind hart umkämpft. "Darmstadt ist definitiv eine erfolgreiche Stadt", sagt Kolmer. "Und mit den Effekten, die dieser Erfolg mit sich bringt, müssen wir nun umgehen können."

Wenn Kolmer von Effekten spricht, dann meint er vor allem den Anstieg der Miet- und Immobilienpreise. Ein Ranking des Marktforschungsinstituts Empirica aus dem zweiten Quartal dieses Jahres verdeutlicht die Entwicklung. Pro Quadratmeter zahlen Mieter in Darmstadt für eine Neubauwohnung demnach durchschnittlich 11,48 Euro. Damit liegt Darmstadt auf Platz acht der Städte mit den höchsten Mietpreisen - weit abgeschlagen hinter dem unangefochtenen Spitzenreiter München (17 Euro) und dem nahegelegenen Frankfurt (13,50 Euro), aber dennoch knapp vor Städten wie Heidelberg und Hamburg. "Für bezahlbaren Wohnraum zu sorgen, unsere Art der Fortbewegung zu überdenken und gleichzeitig für genügend Grünflächen in der Stadt zu sorgen - das sind sicherlich auch in Darmstadt die größten Herausforderungen", sagt Behr.

Moderne Verkehrskonzepte sollen dabei helfen, das Wachstum zu bewältigen

Ein Lösungsansatz ist die Konversion ehemaliger Militärflächen. Dort, wo noch bis vor einigen Jahren US-Soldaten mit ihren Familien gelebt haben, entsteht neuer Wohnraum für Studenten, Familien, "Menschen aller Alters- und Einkommensklassen". Nach und nach werden die Gebäude der ehemaligen amerikanischen Liegenschaften abgerissen und neu bebaut. Allein in der Lincoln-Siedlung im Süden der Stadt sollen etwa 3000 Einwohner ein neues Zuhause finden; in der benachbarten Cambrai-Fritsch-Kaserne sind weitere Wohnungen geplant. "Die Lincoln-Siedlung ist ein Labor der modernen Stadtentwicklung", sagt Behr. "Dort geht es nicht nur darum, viele Wohnungen zu schaffen, sondern auch den Weg für ein innovatives Mobilitätskonzept zu ebnen." Die Devise: Möglichst viele Menschen, möglichst wenige Autos. Carsharing- und Elektrofahrzeuge sollen den Bewohnern ebenso zur Verfügung stehen wie Lastenräder mit Zubehör; die Straßenbahn soll künftig direkt vor ihrer Haustür halten. "Die Angebote in der Lincoln-Siedlung haben einen hohen Symbolcharakter. Sie sollen die Leute zum Umdenken bewegen", sagt Behr, "denn dieser hohe Individualverkehr kann in Darmstadt nicht weiter bestehen."

Nicht weit entfernt von der Künstlerkolonie, im Komponistenviertel im Osten der Stadt, wird derzeit ebenfalls neuer Wohnraum geschaffen. "In begehrten Lagen wie diesen lässt sich ein interessantes Phänomen beobachten", erzählt Behr. "Die großen Grundstücke, die bisher gering ausgenutzt wurden, werden nachverdichtet." Alte Häuser werden abgerissen, an ihrer Stelle sollen Eigentumswohnungen im hochpreisigen Segment zahlungskräftige Interessenten anlocken. Dem Wachstum der Stadt blickt Kolmer auch deshalb gelassen entgegen. "Mit all diesen Flächen sind wir sicherlich erst einmal gut ausgestattet", sagt er. "Darmstadt wird dem Ansturm standhalten können."

© SZ vom 08.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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