Folgen des Coronavirus:Viele stehen nun am Abgrund

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Illustration: Stefan Dimitrov (Foto: N/A)

Die aktuelle Krise trifft einige besonders hart: Geringverdiener, Teilzeitkräfte, Alleinerziehende. Millionen fürchten um ihre Gesundheit - und um ihre Existenz. Die Situation könnte für sie gefährlicher werden als in der Finanzkrise.

Von Lea Hampel und Felicitas Wilke

Jeden Morgen um sieben Uhr steht Sabine Dundas auf, frühstückt und bastelt mit ihrem vierjährigen Sohn, geht spazieren, kauft für ihre Eltern ein - und geht noch mal spazieren. Sie versucht, Strukturen beizubehalten in einer Situation, die mit ihrem bisherigen Alltag nicht mehr viel zu tun hat. "Für jemanden wie mich, die gerne arbeitet, ist es gerade sehr schwer", sagt die 42-Jährige. Bis vor zwei Wochen war sie noch 30 Stunden pro Woche als kaufmännische Angestellte bei einem Logistikunternehmen beschäftigt. "Bis mein Bezirksleiter an einem Donnerstag bei mir im Garten stand und mir die Kündigung in die Hand drückte", berichtet die gelernte Industriekauffrau. Wegen der wirtschaftlichen Folgen des Coronavirus müssten nun Mitarbeiter entlassen werden, die befristet beschäftigt oder in der Probezeit sind, lautete die Begründung. Sabine Dundas war nach fünf Monaten im Betrieb noch in der Probezeit. Und ist jetzt alleinerziehend und arbeitslos.

Wenn jemand schwarz putzt, gibt es in der Regel keine Lohnfortzahlung

Das Virus trifft nicht nur jene hart, deren Immunsystem zu schwach ist, ihm zu trotzen. Auch aus sozialer Sicht gibt es große Risikogruppen. Besonders bedroht sind Menschen wie Sabine Dundas - Menschen, die schon vorher eher am Rand des Arbeitsmarktes zu verorten waren: Minijobber, Multijobber, Leiharbeiter, Menschen, die in Teilzeit arbeiten, weil sie Kinder oder Pflegebedürftige versorgen, Alleinerziehende.

Christoph Butterwegge, bis vor wenigen Jahren Professor an der Universität Köln, befasst sich seit Jahren damit, wie es armen Menschen hierzulande geht. Dabei gelte eine Regel, sagt er: "Eine Krise trifft diejenigen am stärksten, die am schwächsten sind." Seine Beobachtung derzeit: "Es wird zwar Rücksicht auf die Immunschwachen genommen, aber zu wenig auf die Einkommensschwachen geschaut."

Dabei drohen für sie Gefahren gleich in mehreren Bereichen. Schon die Wahrscheinlichkeit, sich anzustecken, ist höher. Oft haben sie Jobs, in denen sie täglich sehr vielen Menschen begegnen. Das fängt bei der viel besungenen Kassiererin an, geht über Putzfrauen und Pflegekräfte bis zu Erzieherinnen - alles Jobs, in denen freiwillige Quarantäne undenkbar ist. "Je höher die berufliche Position einer Person beziehungsweise deren sozialer Status, umso leichter fällt es ihr, von zu Hause aus zu arbeiten", sagt Butterwegge.

Zugleich fehlen diesen Menschen viele Mittel, die andere nutzen können, um Menschenkontakt zu vermeiden: Wer wenig Geld hat, ist häufiger auf den Nahverkehr angewiesen und kann nicht mal eben das Abendessen beim Lieferdienst bestellen, statt im Supermarkt einzukaufen und selbst zu kochen. Möglichst selten in die Läden zu gehen, ist oft auch keine Option. "Auch auf Vorrat zu kaufen, muss man sich erst mal leisten können", sagt Wolfgang Stadler, Vorsitzender des Bundesverbandes der Arbeiterwohlfahrt.

Gleichzeitig sind Menschen in prekären Arbeits- und Lebenssituationen auch von wirtschaftlichen Risiken stärker betroffen: Sie haben Jobs, die ohnehin wenig einbringen. Oft sind es Selbständige, denen jetzt Aufträge wegfallen, oder Menschen, die auf Schwarzarbeit angewiesen sind. Nicht nur, dass diese Aufträge nun ausbleiben, "wenn jemand schwarz putzt, gibt es im Regelfall keine Lohnfortzahlung", sagt Butterwegge, "dabei wäre die in der jetzigen Situation das Wichtigste". In solchen Fällen sind zudem die Sozialleistungen in der Regel geringer.

Auch für Angestellte kann es eng werden

Doch selbst jene, die in einem Anstellungsverhältnis arbeiten, haben es schwer. Leiharbeiter können beispielsweise recht kurzfristig, teils in der nächsten Woche, entlassen werden. Und auch viele der rund 7,5 Millionen Menschen, die Mini- und Midijobs haben, bangen derzeit um ihre Einkommen: In vielen Verträgen steht keine Arbeitszeitregelung. Die Beschäftigten werden zum Teil nicht entlassen, sondern einfach nicht mehr für Arbeit eingeteilt - und verdienen dementsprechend nichts mehr. "Befristet Beschäftigte trifft es in jeder Krise hart", sagt Alexander Herzog-Stein, Arbeitsmarktexperte beim Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Hans-Böckler-Stiftung. "Ihre bald auslaufenden Verträge nicht zu verlängern, gehört dann meist zu den klassischen Vorstandsbeschlüssen oder Managemententscheidungen."

Der Kreis der Betroffenen ist ziemlich groß. "Die Krise, die wir gerade erleben, betrifft weitere Teile der Wirtschaft als 2009", sagt Herzog-Stein. "Allen voran auch den Dienstleistungssektor, in dem viele Geringverdiener arbeiten." Schlimm ist daran vor allem: Bei vielen Menschen kommen, wie so oft, mehrere Probleme zusammen. Das ist aus der Armutsforschung bekannt: Wer ohnehin schwierige Umstände hat, verfügt über weniger ökonomische und soziale Resilienz. Zum Beispiel kann, wer schlecht verdient, keine Rücklagen für den Notfall bilden. Das ist auch bei Sabine Dundas so. Sie hat bis vor Kurzem zwar fast 2000 Euro netto verdient. Doch als Alleinverdienerin mit einem Ex-Mann, der keinen Unterhalt zahlt, musste sie im teuren Großraum München schon vor einiger Zeit in eine kleinere 48-Quadratmeter-Wohnung umziehen. Um für schlechte Zeiten zu sparen, reichte das Geld trotzdem nicht. Von April an wird der Staat ihr zwar rund 1000 Euro Hartz IV überweisen. Doch weil sie bereits ihre vorherige Stelle schon nach sechs Monaten aus betriebsbedingten Gründen verloren hatte und nun insgesamt nur elf Monate am Stück erwerbstätig war, hat sie keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld. Mit den 1000 Euro, sagt sie, "komme ich erst mal über die Runden. Aber Hartz IV, das will ich nicht sein."

Alexandra Fedorets befasst sich am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung mit Arbeitsfragen. Sie sagt, für Menschen im Niedriglohnsektor komme erschwerend hinzu, "dass sie oft kein großes soziales Netz haben, das sie auffängt. Sie haben auch weniger Ressourcen, um beispielsweise Rechtsansprüche durchzusetzen." Ähnlich hat das Christoph Butterwegge beobachtet. "Eigentlich brauchen arme Menschen oft besonders viel Beratung", sagt er. "Die sind natürlich mit Geldmitteln eher zu bekommen. Wer die nötigen Mittel hat, kann bei Ärger mit dem Vermieter oder dem Jobcenter zum Anwalt."

Bei keiner Gruppe zeigt sich die unglückliche Kombination verschiedener Faktoren so deutlich wie bei der, zu der Dundas gehört: den Alleinerziehenden. Sie gelten ohnehin als besonders armutsgefährdet. Laut einem Bericht des Statistischen Bundesamtes konnten sich im Jahr 2016 zwei Drittel aller Alleinerziehenden keine unerwarteten Ausgaben von mehr als 985 Euro leisten. Wenn jetzt Kitas und Schulen geschlossen haben und Großeltern zu ihrem Schutz vor einer Ansteckung nicht einspringen können, müssen Alleinerziehende Job, Kinderbetreuung und Haushalt alleine koordinieren - und zwar anders als sonst von früh bis spät. "So manche Alleinerziehende treibt nicht nur die Sorge um die Gesundheit um, sondern auch Existenzängste", sagt Daniela Jaspers, Bundesvorsitzende des Verbands alleinerziehender Mütter und Väter.

Verschärft wird das dadurch, dass auch andere Unterstützungsangebote wegfallen, Beratungsgespräche etwa und Sozialarbeitstermine, auch Einrichtungen wie die Tafeln müssen schließen, weil die helfenden Senioren ausfallen. "Sozial Benachteiligte sind viel mehr als Bessersituierte auf Institutionen angewiesen, die für sie Dienstleistungen erbringen", sagt Armutsforscher Butterwegge. "Insofern kann für sie selbst die Schließung von Behörden wie etwa des Jobcenters problematisch sein, weil ihnen dann eine Anlaufstelle fehlt." Auch deshalb haben die Verbände der freien Wohlfahrtspflege in einem eindringlichen Appel diese Woche Unterstützung durch den Staat angemahnt.

Nicht nur das Einkommen bricht bei vielen weg, sondern auch das Vertrauen in den Staat

"Es geht um den sozialen Kitt, der unser Zusammenleben überhaupt ermöglicht", steht in dem Aufruf. Denn dass die durch das Coronavirus verursachte Krise kurzfristig dafür sorgen könnte, dass viele Menschen ohne Einkommen dastehen, ist schlimm genug. Langfristig aber könnte es bedeuten, dass Menschen ihre Wohnung verlieren. Armutsforscher Butterwegge ist überzeugt: "Je länger die Krise dauert, desto mehr Lebensbereiche werden von ihr betroffen sein." Und dann könnte den Menschen nicht nur das Einkommen und die Wohnung fehlen, sondern auch die Hoffnung und das Vertrauen in den Staat. Butterwegge sieht die Gefahr, dass auch die Enttäuschung und die Wut auf die Politik wieder steigen könnten, sollten viele Menschen weiter abrutschen. Auch Sabine Dundas sagt: "Ich fühle mich alleingelassen."

Die Politik scheint das zumindest erkannt zu haben: Leiharbeiter haben nun auch Ansprüche auf Kurzarbeitergeld, d. Die Bundesregierung hat angekündigt, dass niemand wegen Corona seine Wohnung verlieren soll. Auch will sie Eltern von Kindern bis zwölf Jahren finanziell entschädigen, wenn sie wegen Schul- und Kitaschließungen nicht arbeiten können. Nur: Sabine Dundas profitiert davon nicht, denn sie hat keinen Job mehr. Alleinerziehend und arbeitslos, das will sie möglichst schon bald nicht mehr sein. Zu ihrer Routine in dieser schwierigen Zeit gehört es nun auch, Bewerbungen zu schreiben. Im Schnitt fünf pro Tag, sagt sie. Eine Einladung zum Probearbeiten hat sie schon.

Korrektur: In einer früheren Version des Artikels hieß es, Minijobber hätten Anspruch auf Kurzarbeitergeld. Das ist falsch. Richtig ist, das Leiharbeiter Anspruch auf Kurzarbeitergeld haben.

© SZ vom 28.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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