Im August vergangenen Jahres veröffentlichte Thomas Piketty, Professor an der École d'Économie de Paris, ein fast tausend Seiten dickes Buch mit einem unbescheidenen Titel: "Le capital au XXI siècle" - "Das Kapital im 21. Jahrhundert". Es behauptete sich gut unter den französischen Sachbüchern der Saison und wurde in der Kritik als die lang erwartete Wiedervereinigung der Ökonomie mit der Geschichte gerühmt. Ein paar Monate später weckte dasselbe Buch in den USA eine solche Aufmerksamkeit, dass der amerikanische Verlag die Veröffentlichung der Übersetzung vorzog.
"Capital in the Twenty-First Century" (Belknap Press, Cambridge 2014) ist jetzt seit fünf Wochen auf dem Markt und gilt als Offenbarung: Das Buch, schreibt Paul Krugman, der bekannteste Wirtschaftswissenschaftler der Welt, in der New York Review of Books, sei eine "Wasserscheide". Es werde "unser Denken über die Gesellschaft und unser Denken über die Ökonomie" verändern. Martin Wolf, der führende Ökonom der Financial Times, erklärte das Werk zu einem "außerordentlich wichtigen Buch", das niemand zu übersehen sich leisten könne. Daran ist zumindest soviel Wahres, dass Thomas Piketty, als er in der vergangenen Woche durch Nordamerika reiste, vom Finanzminister in Washington bis zu den Vereinten Nationen in New York auf eine Weise herumgereicht wurde, als habe er die Weltformel entdeckt.
Die Aristokratie ist wieder da: eine Klasse, die sich grundsätzlich über alle anderen erhebt
Dabei ist die These, zu deren Beweis Thomas Piketty mit seinem Buch auszieht, denkbar schlicht: Der gesellschaftliche Reichtum, erklärt er, sei zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht anders verteilt als vor hundert oder zweihundert Jahren. Heute wie damals gebe es eine kleine Gruppe extrem reicher Menschen, die über einen gewaltigen Teil aller verfügbaren Einkommens- und Vermögenswerte verfügen, während der weitaus größere Teil der Menschheit wenig mehr besitzt als die Arbeitskraft, die er zu Markte trägt. Der Sozialstaat und die angebliche Nivellierung der sozialen Unterschiede, der Aufstieg der Mittelschicht, die zahllosen politischen Bildungs- und Vermögensinitiativen - all diese Versuche der demokratisch verfassten Industriestaaten, den Reichtum zu verallgemeinern, hätten an den Verhältnissen kaum etwas geändert, und wenn, dann nur für begrenzte Zeit.
Tatsächlich, so Thomas Piketty, treffe nicht einmal die liberale Lehre zu, es bedürfe deutlicher finanzieller Unterschiede, um Leistung zu motivieren. Denn der weitaus größere Teil allen Reichtums bestehe nicht in Arbeitseinkommen, sondern in Vermögen. Und so etwas werde auch heute weniger erworben als vielmehr ererbt - in einem Maße, wie das zuletzt im frühen 19. Jahrhundert der Fall gewesen sei.
Im Zentrum des Buches steht tatsächlich eine Formel. Sie lautet: "r >g", wobei "r" für die Kapitalrendite steht ("return of capital") und "g" für das Wirtschaftswachstum ("economic growth"). Sie bedeutet nicht nur, dass sich alle "Scheren" in der Verteilung von Reichtum immer weiter öffnen müssen, allein schon, weil sich die Kapitalrenditen fortlaufend akkumulieren, sondern auch, dass diese Unterschiede in Zeiten niedrigen Wachstums - gegenwärtig mögen es im Schnitt der westlichen Industrieländer 1,5 Prozent im Jahr sein - besonders groß ausfallen.
Denn auch bei einer Rendite von vier oder fünf Prozent wird der Reichtum vermehrt, während die Inflation, und sei sie auch noch so gering, für alle Menschen, die von ihrem Einkommen leben müssen, wie eine zusätzliche Steuer wirkt. Hinzu kommt, dass sich in den vergangenen Jahrzehnten eine Gruppe von sehr reichen Angestellten bildete, die sich zumindest zum Teil an die Stelle der Vermögensbesitzer älterer Herkunft setzte: die führenden Manager großer Unternehmen, die, wie Thomas Piketty meint, vor allem deshalb so viel verdienen, weil sie ihre Entlohnung selbst festsetzen können. Tatsächlich sei in diesen Menschen eine Art Aristokratie wiedergekehrt - eine neue Klasse, die sich grundsätzlich über alle anderen erhebt, prinzipiell nicht belangbar ist und sich wiederum vor allem dynastisch erhalte.