Großbritannien:Boris Johnson und seine Peanuts

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In den Augen vieler Hardcore-Brexiteers agiert Johnson viel zu EU-freundlich, vor allem im Streit über die Regelungen für Nordirland. (Foto: Paul Grover; Daily Telegraph/dpa)

Der britische Premier ist stolz auf seine "großartigen Deals". Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich: Seine wirtschaftliche Brexit-Bilanz ist dürftig - und der Druck aus den eigenen Reihen steigt.

Von Alexander Mühlauer, London

Sir Iain Duncan Smith war mal Parteichef der Tories, er weiß also nur zu gut, was er tun muss, um einen Premierminister in Alarmbereitschaft zu versetzen. Zum Jahresbeginn veröffentlichte Sir Iain einen Artikel im Express, in dem er einerseits den britischen EU-Austritt als Erfolg pries. Andererseits erinnerte er Premier Boris Johnson ziemlich deutlich daran, was er in den Augen vieler Tories bislang nicht geliefert hat: die Brexit-Dividende für die britische Wirtschaft.

Duncan Smith hat eine genaue Vorstellung, wie das gelingen könnte. Er ist Vorsitzender der von Johnson eingesetzten Taskforce, die die Potenziale des Brexit herausarbeiten soll. Duncan Smith ist davon überzeugt, dass Großbritannien weg muss "vom zutiefst risikoscheuen Vorsorgeprinzip der EU". Das Vereinigte Königreich müsse sich stattdessen auf "das britische Verhältnismäßigkeitsprinzip" besinnen, um die Produktivität zu steigern. Diese Chance, so Duncan Smith, habe die Regierung bislang noch nicht ergriffen.

Verhältnismäßigkeit heißt für die meisten Tories: Common Sense, also mehr gesunden Menschenverstand im Sinne der Wirtschaft, wobei über dessen genaue Definition munter gestritten wird. So sind etwa die Libertären der Meinung, dass Johnson aus Großbritannien endlich ein Niedrigsteuer-Paradies für Unternehmen machen sollte. Doch davon ist die Regierung weit entfernt, ein von den Brexiteers ersehntes Singapur an der Themse ist nicht in Sicht. Auch sonst ist der Frust über den Premier groß. Johnson, so heißt es im Regierungsviertel hinter vorgehaltener Hand, habe kaum eine Vorstellung davon, welchen wirtschaftlichen Profit er aus dem Brexit schlagen möchte.

Beispielhaft für die Unentschlossenheit steht die von Duncan Smith geforderte Abkehr von den strengen Datenschutzregeln der EU. Die britische Regierung hat zwar erklärt, dass sie sich von der umstrittenen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) lösen will, aber bislang blieb es nicht viel mehr als eine Ankündigung. Dabei ist das Ziel eindeutig: London will damit den bürokratischen Aufwand für Unternehmen verringern und erhofft sich dadurch einen Wachstumsschub. Ob es wirklich dazu kommt, bezweifelt man jedoch in Brüssel. Schließlich könnte die EU-Kommission die derzeit geltenden Vereinbarungen mit London umgehend beenden.

Die Datenschutzregeln lockern? Das könnte schnell zum Eigentor werden.

In den sogenannten Angemessenheitsbeschlüssen ist geregelt, dass personenbezogene Daten ungehindert aus der EU in das Vereinigte Königreich fließen können. Voraussetzung dafür ist ein dort geltendes Schutzniveau, das jenem in der EU gleichwertig ist. Ist dieses aus Brüsseler Sicht nicht mehr gegeben, könnte die Kommission diese Beschlüsse aufheben. Dies würde wiederum dazu führen, dass viele britische Unternehmen mit kostspieliger Bürokratie konfrontiert würden, wenn sie weiter Daten über den Ärmelkanal übermitteln wollen. Kein Wunder also, dass Johnson davor zurückschreckt, die Datenschutzregeln zu lockern.

Doch davon wollen Hardcore-Brexiteers wie Duncan Smith nichts wissen. Ihnen dauert die Abnabelung von Brüssel ohnehin schon viel zu lange. In ihren Augen agiert Johnson viel zu EU-freundlich, vor allem im Streit über die Regelungen für Nordirland. Aus Sicht der Brexiteers war es jedenfalls kein gutes Signal, dass Lord David Frost kurz vor Weihnachten als Brexit-Minister und Chefverhandler zurücktrat. Frost beschwerte sich über die "derzeitige Fahrtrichtung" der Regierung - eine Kritik, die man seitdem immer öfter in Tory-Kreisen vernehmen kann.

Die Hoffnung der Johnson-Kritiker ruht nun auf Liz Truss. Die Außenministerin wird von jetzt an die Verhandlungen mit Brüssel über die Regelungen für Nordirland leiten. Truss, die sich gerne als Möchtegern-Thatcher inszeniert, war schon als Handelsministerin äußerst beliebt bei den Brexiteers. Sie steht für das, was Johnson "Global Britain" nennt. Ein Großbritannien, das Handelsverträge in der ganzen Welt schließt. Johnson rühmte in seiner einjährigen Brexit-Bilanz ganze 70 Abkommen im Wert von 900 Milliarden Euro. Doch die große Mehrheit dieser Verträge sind nichts weiter als eine Kopie jener Abkommen, von denen Großbritannien bereits als EU-Mitglied profitierte. Völlig neu ausgehandelt ist lediglich ein Pakt mit Australien, ein weiterer mit Neuseeland steht bevor.

Der Premier mag die neuen "großartigen Deals" feiern, doch manches relativiert sich recht schnell, wenn man auf die Zahlen blickt. Ein Beispiel: Der Handel mit Neuseeland macht in etwa 0,2 Prozent des gesamten Handelsvolumens des Vereinigten Königreichs aus, die britische Wirtschaftsleistung könnte dank des Deals laut Angaben der Regierung um 0,01 Prozent wachsen. Im Vergleich zu den Geschäften, die zwischen Großbritannien und der EU laufen, sind das Peanuts. Ganz zu schweigen von dem großen Ziel, Handelsverträge mit den USA und Indien zu schließen, was allerdings außer Reichweite scheint.

Die wohl bislang einschneidendste Brexit-Veränderung für die britische Wirtschaft ist das punktebasierte Einwanderungssystem. Seit das Königreich den EU-Binnenmarkt zum 1. Januar 2021 verlassen hat, gibt es klare Kriterien, wer ins Land zum Arbeiten kommen darf. "Take back control" lautete der Schlachtruf der Brexiteers, den Johnson zumindest in der Einwanderungspolitik umgesetzt hat. Nun fehlen jedoch billige Arbeitskräfte aus Osteuropa. Die Regierung versucht das mit zeitlich begrenzten Sondervisa auszugleichen, etwa für Metzger und Lastwagenfahrer.

Viel lieber als die hätte die britische Regierung allerdings die klügsten Köpfe. Johnson will das Königreich zu einem Technologie-Zentrum machen. Eines der Schlagworte lautet künstliche Intelligenz. Die Regierung hat deshalb ein Sondervisum für wissenschaftliche Preisträger ausgelobt. Doch bislang gab es keine einzige Bewerbung.

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