Brexit:Das verdammte Referendum

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Britische Unternehmen fürchten, dass ihnen nach dem Brexit die benötigten Fachkräfte aus Osteuropa fehlen werden.

Von Björn Finke, Cheslyn Hay/Ditchling

40 Bewerber habe er interviewt, sagt David Fox: "Und nur zehn waren Briten, die anderen kamen aus dem Ausland." Fox sitzt im etwas abgewetzten Besprechungszimmer seines Unternehmens und schaut besorgt. Der 77-Jährige ist Eigentümer und Chef von PP Control & Automation, einem englischen Maschinenbauer. Die Firma aus Cheslyn Hay, einer früheren Bergarbeitersiedlung in der Nähe von Birmingham, beschäftigt 200 Mitarbeiter. Bald sollen es einige mehr sein, denn Fox will den Umsatz in den kommenden fünf Jahren verdoppeln, auf dann 40 Millionen Pfund. Für die Wachstumspläne gibt es allerdings ein Problem: "Wir finden nicht schnell genug gute Leute für die Fabrik", sagt der Mittelständler. "Und wenn wir gute Leute finden, sind das oft Einwanderer aus Osteuropa, etwa aus Polen." In Großbritannien würden einfach zu wenig Facharbeiter für die Industrie ausgebildet.

In Zukunft könnte es schwieriger werden, Arbeiter aus EU-Staaten anzuwerben. Die Brexit-Kampagne gewann das Referendum mit dem Versprechen, Einwanderung aus der EU zu begrenzen. Theresa May, die Nachfolgerin David Camerons als Premier, will sich an dieses Versprechen halten. Selbst über den Status der EU-Bürger, die bereits im Königreich leben und arbeiten, müsse mit Brüssel erst noch verhandelt werden, droht May. Die britischen Wirtschaftsverbände protestierten gegen diese Ankündigung. Sie verlangen Zusicherungen für die Beschäftigten aus der EU, damit Fachkräfte nicht weggehen.

Bei PP Control & Automation fertigen Fachkräfte Schaltschränke und Kabelbäume, die dann an Maschinenbauer geliefert werden. In der Fabrikhalle dudelt ein Radio, übertönt von stetem Geklapper. Arbeiter stehen vor hohen Metallschränken, montieren Steuerungen und befestigen Leitungen. In den Schränken hängt ein Wust bunter Kabel vor ganzen Batterien von Steckplätzen. Rechts wird eine Steuereinheit für Verpackungsmaschinen zusammengesetzt. Diese wiegen Chips ab und füllen sie in Tüten. Im nächsten Gang erschaffen die Techniker das Gehirn einer Maschine, die Etiketten auf Obst klebt. Es ist aufwendige Handarbeit - darum ist die Firma auf erfahrene Fachkräfte angewiesen.

Was wird aus der britischen Wirtschaft? Handarbeit beim Maschinenbauer PP Control & Automation in Cheslyn Hay. (Foto: Phil Noble/Reuters)

Das Unternehmen hat die größten Maschinenbauer der Welt als Kunden, Konzerne aus Japan, Deutschland und den USA. Das zeigt sich schon am Eingang: Auf dem Tresen der Rezeptionistin stehen drei Fähnchen, eine britische, eine deutsche, eine japanische. An den Flaggenmästen vor dem Werk flattert neben der britischen Fahne auch die EU-Fahne im Sommerwind. Ansonsten ist Europa-Begeisterung ziemlich rar in dieser Gegend. Zwei Drittel der Wähler stimmten für den Austritt. Exporte in die EU sind für das Unternehmen wichtig. Deutschland, diese Hochburg des Maschinenbaus, ist der am schnellsten wachsende Markt. Der Plan, den Umsatz in fünf Jahren zu verdoppeln, beruht auf der Annahme, in der Bundesrepublik kräftig zulegen zu können. Doch nach dem Austritt könnte der Handel über den Ärmelkanal schwieriger werden. Die britische Regierung muss sich mit Brüssel auf Regeln für die zukünftigen Beziehungen einigen. Da geht es auch darum, ob britische Firmen weiterhin ohne bürokratische Hürden oder gar Zölle Waren im gemeinsamen Binnenmarkt verkaufen können. Diese Gespräche werden Jahre dauern.

"Ich habe es mit englischen Arbeitslosen versucht, aber die waren unzuverlässig."

Deutsche Kunden hätten ihn nach dem Referendum angerufen und nach seiner Einschätzung gefragt, sagt Betriebsleiter Tony Hague. "Die waren so schockiert wie ich." Kein Gesprächspartner habe sich aber negativ geäußert. Der Verfall des Pfundkurses helfe Exporteuren wie PP Control & Automation sogar, weil die Produkte für ausländische Abnehmer nun billiger sind. Hague glaubt, dass sich London und Brüssel am Ende auf Regeln einigen, die den jetzigen sehr ähneln: "Die Regierung wird den Brexit verwässern." Dann sei das handfesteste Ergebnis des "verdammten Referendums" die lange Ungewissheit gewesen.

Gut 300 Kilometer südöstlich von Hagues Werk steht Tamara Roberts in der Sonne, schaut auf akkurat gepflanzte Reihen von Chardonnay-Rebstöcken und klagt ebenfalls über die Volksabstimmung. Die 43-Jährige ist Chefin von Ridgeview, einem der besten Sektgüter des Königreichs. Der edle Tropfen aus dem Dorf Ditchling, in der Nähe der Kanalküste, ist preisgekrönt und wird etwa bei Empfängen in der Downing Street gereicht. Ridgeview füllt 250 000 Flaschen im Jahr ab, ein Fünftel geht in den Export. "Dank des EU-Binnenmarktes haben wir null Aufwand, wenn wir Sekt im Ausland verkaufen", sagt die Tochter des Gutsgründers. Der Brexit könnte mehr Bürokratie bedeuten.

Doch ihre größte Sorge betrifft die Saisonarbeiter: Auf den Weinfeldern, so groß wie neun Fußballfelder, sind Helfer aus Rumänien und Portugal tätig. Sie beschneiden die Rebstöcke, im Oktober lesen sie die Trauben. Es ist harte Arbeit, und sie fällt nur an einigen Wochen im Jahr an. "Ich habe es mit englischen Arbeitslosen versucht, aber die waren unzuverlässig und wenig produktiv", sagt Roberts. Briten suchten eine Anstellung fürs ganz Jahr, nicht einen Knochenjob für ein paar Wochen. Sollte es die Regierung tatsächlich schwerer machen, EU-Ausländer ins Land zu holen, schaffe das ein ernstes Problem.

Nicht nur für Ridgeview. Obst- und Gemüsebauern im Königreich klagen schon jetzt, es sei schwieriger geworden, die dringend benötigten Helfer aus Osteuropa anzuwerben. Nach dem Absturz des Pfundkurses zögen es manche Rumänen und Bulgaren vor, in Euro-Staaten Äpfel zu pflücken und Salat zu ernten, sagen Branchenvertreter. Etwa in Deutschland. Trotz der Sorgen hält sich Winzerin Roberts mit harten Urteilen über die Regierung zurück. Dafür hat Fabrikdirektor Hague eine klare Meinung. "Diese Volksabstimmung anzusetzen, war die allerdümmste Entscheidung", sagt er. "Stelle niemals eine Frage, wenn dir die Antwort nicht gefallen könnte."

© SZ vom 13.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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