Brexit:Angst vor dem Chaos

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Proteste gegen die Regierung vor dem Parlament im Sommer 2017: Das Schild des Demonstranten verkündet, dass man Theresa May nicht trauen kann. Die Brexit-Politik der Premierministerin spaltet das Land. (Foto: Stefan Rousseau/dpa)

Bekommt Theresa May den Austrittsvertrag nicht durchs Parlament, droht ein ungeregelter Brexit. Firmen bereiten sich notdürftig vor, warnen aber vor Entlassungen.

Von Björn Finke, London

Der Chef der britischen Notenbank, Mark Carney, doziert bei einer Parlamentsanhörung über einen "wirtschaftlichen Schock". Der Industrieverband des Vereinigten Königreichs bezeichnet dieses Szenario als "Katastrophe". Und der größte Unternehmerverband CBI warnt blumig vor einer "Abrissbirne", welche die Wirtschaft auf der Insel bedroht: Lobbyisten, Manager und Währungshüter haben in den vergangenen Tagen mit drastischen Worten vor einem sogenannten No-Deal-Brexit gewarnt, einem Austritt aus der EU ohne Scheidungsvertrag. Am Mittwoch reihte sich die Pariser Wirtschaftsorganisation OECD in den Chor der Mahner ein. So eine ungeregelte Trennung würde das Wachstum dämpfen; die Wirtschaftsleistung im Königreichs würde bis 2020 um etwa 40 Milliarden Pfund geringer ausfallen, prophezeien die Ökonomen.

Bisher ist von Brexit-Blues wenig zu spüren, die Wirtschaft wächst

Die Mahner und Warner treibt die Sorge um, dass die britische Premierministerin Theresa May für den Austrittsvertrag mit der EU keine Mehrheit im Parlament findet. Vorige Woche präsentierten Brüssel und London einen Entwurf des Abkommens. Brexit-Enthusiasten in Mays Konservativer Partei kündigten an, dagegen zu stimmen, weil ihnen dieser Vertrag eine viel zu enge Bindung an die EU vorsieht. Die nordirische Regionalpartei DUP, die Mays Minderheitsregierung stützt, lehnt das Abkommen ebenfalls ab. Minister und Staatssekretäre traten zurück. Die historische Abstimmung im Parlament ist für den 10. Dezember vorgesehen. Fällt der Vertrag durch, droht am 29. März tatsächlich ein Brexit ohne Abkommen. Dann gäbe es auch nicht die vereinbarte Übergangsphase, in der sich bis Ende 2020 fast nichts ändern sollte für Bürger und Firmen.

Stattdessen würden Regeln der Welthandelsorganisation WTO den Rahmen setzen für Geschäfte über den Ärmelkanal. Zölle würden erhoben, etwa von zehn Prozent auf Autos und gut 35 Prozent auf Milchprodukte. Exporteure müssten Zollformulare ausfüllen, in Häfen könnten stichprobenartige Kontrollen von Lastern zu Staus führen. Das bedroht den steten Nachschub an Lebensmitteln für Supermärkte und Zulieferteilen für Fabriken. London hat zugesagt, EU-Fluggesellschaften weiter zu erlauben, auf und über die Insel zu fliegen. Unklar ist, ob Brüssel sich ähnlich großzügig gegenüber britischen Gesellschaften zeigt, solange kein Vertrag zum Luftverkehr abgeschlossen ist. Kurzum: Ein No-Deal-Brexit hätte Unsicherheit, Verzögerungen, höhere Kosten zur Folge - genau das, was Manager hassen.

Wegen der Ungewissheit verschieben Firmen Investitionen; in der exportabhängigen Autobranche steckten Betriebe im ersten Halbjahr nur halb so viel Geld in neue Maschinen und Modelle wie im Vorjahreszeitraum. Insgesamt geben vier von fünf Unternehmen in Umfragen an, dass die Aussicht auf den Brexit ihren Investitionsplänen schade. Trotzdem zeigt sich die Konjunktur robust: Im laufenden Jahr soll die Wirtschaft um 1,3 Prozent wachsen, was für britische Verhältnisse langsam ist, aber eben auch kein Desaster. Die Arbeitslosenquote ist so niedrig wie zuletzt in den Siebzigerjahren, und die Löhne, die über viele Jahre kaum zugelegt haben, steigen wieder so schnell wie vor der Finanzkrise.

Bisher ist von einem Brexit-Blues wenig zu spüren. Doch ein Austritt ohne Abkommen und Übergangsphase könnte das ganz schnell ändern. So warnt Ralf Speth, Chef des Autoherstellers Jaguar Land Rover, dass ein No-Deal-Brexit zu Pleiten und Entlassungen führen könnte - und das nicht nur in seiner Branche: "Unternehmen werden verschwinden, Fabriken werden geschlossen. Viele Industriebranchen haben keine Chance, so einen harten Brexit zu überleben", sagt der Deutsche. Die Autoproduzenten, die 169 000 Menschen auf der Insel beschäftigen, gehören zu den Firmen, für die reibungsloser Handel mit dem Festland besonders wichtig ist. Jeden Tag liefern mehr als 1100 Lastwagen Teile aus anderen EU-Staaten bei britischen Fabriken ab, und Europas Staaten stehen für mehr als die Hälfte der Autoexporte.

Um für einen chaotischen Austritt besser gewappnet zu sein, hat BMW die Sommerpause im Oxforder Werk der Marke Mini 2019 vorverlegt - auf Ende März. Andere Unternehmen stocken ihre Lagerbestände auf, manche müssen neuen Lagerplatz anmieten. Finanzinstitute haben Lizenzen in anderen EU-Staaten beantragt und damit begonnen, Abteilungen und Arbeitsplätze von Europas Bankenzentrum London in andere Länder zu verlagern, um auch nach März Kunden auf dem Festland betreuen zu dürfen. Hier geht es Schätzungen zufolge aber nur um gut 5000 Stellen. Insgesamt beschäftigen Finanzkonzerne und von ihnen abhängige Dienstleister 751 000 Menschen in London.

Stimmt das Parlament im Dezember gegen den Austrittsvertrag, könnten das Pfund und die Kurse an der Londoner Börse massiv leiden. Manche Beobachter argumentieren, dass so eine Reaktion der Märkte manche Abgeordnete zum Umdenken bewegen würde. Premierministerin May könnte dann noch einmal versuchen, den Vertrag - mit kosmetischen Änderungen - durchs Parlament zu bekommen, und hätte vielleicht bessere Chancen. Segnen die Abgeordneten den Vertrag ab, wissen die Unternehmer Ihrer Majestät, dass sich bis Ende 2020 nicht viel für sie ändern wird. Manager würden aufgeschobene Investitionen frei geben, was der Konjunktur einen Schub verleihen würde.

Das Abkommen ist allerdings sehr vage, wenn es um die künftigen Wirtschaftsbeziehungen geht: um den Handelsvertrag, der nach der Übergangsphase in Kraft treten soll. Die Gespräche darüber beginnen erst nach dem Brexit; eine siebenseitige politische Erklärung im Scheidungsabkommen skizziert bloß grobe Umrisse. Die Unternehmer müssten auch während dieser Verhandlungen bangen, mahnen und warnen. Inzwischen haben sie ja Übung darin.

© SZ vom 22.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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