Er war gekommen, um ihnen ins Gesicht zu spucken: "Geschäfte sind Mittelalter. Sie wurden nur gebaut, weil es kein Internet gab", schmetterte Oliver Samwer dem Publikum auf einem Kongress entgegen. Dort saßen gestandene Manager von Carrefour, Metro und Walmart. Menschen, die in der Logik des Internetunternehmers einfach nicht kapieren, dass man keine Supermärkte und keine Kaufhäuser mehr braucht, wenn man im Handel das große Geld machen will. "Sie verstehen das nicht, weil Sie zu alt sind und zu alte Kunden befragen", stänkerte Samwer.
Es ist einfach, andere als Ewiggestrige abzutun, so lange man selbst noch nicht beweisen musste, dass man die Zukunft verstanden hat. In dieser Woche ist Samwer gleich zwei Mal angetreten, um erste Beweise zu erbringen. Am Mittwoch ging der Internethändler Zalando, den Samwer mit seinem Geld groß gemacht hat, an die Börse. Am Donnerstag folgte die Start-up-Schmiede Rocket Internet, an deren Spitze Samwer steht und deren Umsatz zu zwei Dritteln aus dem Internethandel stammt.
Zum Börsenstart war Zalando etwas mehr als fünf Milliarden Euro und Rocket Internet mehr als sechs Milliarden Euro wert. Auch wenn diese Werte nun den sekündlichen Schwankungen des Aktienmarkts ausgesetzt sind und sich somit ständig ändern, gewähren die Zahlen einen Blick in eine verkehrte Welt: Der Handelskonzern Metro, der mit mehr als 350 Supermärkten in Deutschland und fast 1000 Filialen seiner Media-Saturn-Elektronikfachmärkte einer der größten Handelskonzerne der Welt ist, bringt es dagegen nur auf einen leicht höheren Börsenwert von rund acht Milliarden Euro.
Steckt hinter den Beleidigungen, die Samwer der versammelten Handelsbranche auf ihrem wichtigsten Kongress im Juni entgegen schleuderte, also wirklich mehr als die Arroganz des Neulings?
Mode ordern Deutsche besonders gerne im Netz
Dass die Deutschen immer öfter online statt in der Einkaufsstraße shoppen, ist unbestritten: In diesem Jahr werden sie nach Berechnungen des Instituts für Handelsforschung 42,8 Milliarden Euro bei Einkäufen im Netz lassen. Das ist etwa ein Zehntel dessen, was sie insgesamt ausgeben - ob sie nun Shampoo, schicke Schuhe oder einen Fernseher kaufen. Aber, betont Jörg Funder, der an der Hochschule Worms über Handelsmanagement forscht, auch in den nächsten fünf Jahren wird der Löwenanteil des Umsatzes im Laden und nicht im Netz gemacht.
Immerhin, Mode gehört zu den Dingen, die die Deutschen besonders gern im Netz kaufen. Mit einer Mischung aus analytischem Blick für die Bedürfnisse der Kunden, mit Hartnäckigkeit und Disziplin, aber auch mit enormen Investitionen hat Zalando es in sechs Jahren weit gebracht. Erstmals konnte das Unternehmen kürzlich Gewinn melden: 29 Millionen Euro im zweiten Quartal. Und das, so das Versprechen, sei erst der Anfang: "Unsere 13,7 Millionen Kunden stellen nur etwa drei Prozent der Gesamtbevölkerung der 15 Länder dar, in denen wir derzeit tätig sind", hieß es im Börsenprospekt. Mit anderen Worten: Da ist noch einiges zu holen.
Das Problem ist. dass Zalando nicht der einzige Händler ist, der an das Portemonnaie der Europäer will - und dieses auch nicht gerade größer wird. Denn das Geld, was einst im Kaufhaus ausgegeben wurde, landet nun eben im Netz. Start-ups wie Zalando setzen darauf, dass sie die Kunden dort besser bedienen als die etablierten Händler. Funder ist skeptisch: "Wenn der stationäre Handel erst einmal aus seiner Schockstarre erwacht, hat er mit seinem Filialnetz einige strategische Vorteile." So könnte der klassische Händler durch seine Verankerung im Viertel, durch persönliche Beratung ein Vertrauen zum Kunden herstellen, das im Netz viel schwerer zu gewinnen sei. Zudem ist er, bislang noch, schneller: Im Laden um die Ecke kann man sofort mitnehmen, was man braucht, bei der Bestellung im Netz muss man ein paar Tage warten. Diese Vorteile, so Funder, spielten bislang die wenigsten Handelsunternehmen aus. Weil sie sie nicht erkennen - oder ihnen die finanziellen Mittel dazu fehlen. "Die glauben den Quatsch, dass der stationäre Handel tot sei, was Samwer ihnen einredet."
Schwellenländer bieten große Chancen, aber die Risiken sind auch hoch
Die meisten der etwa 70 Start-ups unter dem Dach der von Samwer geführten Beteiligungsgesellschaft Rocket Internet geben sich mit den Europäern gar nicht erst ab. Sie suchen gleich dort ihr Glück, wo in Zukunft das große Geld locken könnte: in den aufstrebenden Schwellenländern Asiens, Lateinamerikas und Afrikas. Dort steigt die Zahl der Smartphones und damit auch die Zahl derer, die mit dem Ding zu jeder Zeit an jedem Ort auf virtuelle Shoppingtour gehen, viel rasanter als in der westlichen Welt. Dort sind die Menschen jünger, die Rivalen schwächer. Das sind die Chancen, die Rocket Internet in seinem Börsenprospekt auflistet, um daraus abzuleiten: Deshalb wird dort in Zukunft klappen, was in den USA oder in China viel zu mühsam, viel zu langwierig wäre. Der Haken an solchen Wachstumsträumen in der Zukunft ist nur: Sie blenden die weniger rosige Gegenwart aus. "Die dortige Mittelschicht entsteht gerade erst. Um mit ihr Geld zu verdienen, braucht man einen langen Atem", sagt Funder. Hinzu komme, dass die Händler dort auch erst die nötige Infrastruktur schaffen müssen, um die bestellten Waren zu liefern. "Wir vergessen oft, wie groß und wie dünn besiedelt Argentinien oder Russland sind. Dort fehlt es schlichtweg an den Postwegen, um ein Paket auch in die letzte Ecke des Landes zu bringen. Deshalb bauen die Händler diese allein auf - und das kostet." Dass in vielen der von Samwer anvisierten Märkten Korruption, politische Umstürze und Terrorgefahr drohen, machen solche Investitionen nicht gerade leichter.
Wie groß der Unterschied zwischen Deutschland und den Schwellenländer ist, zeigen auch die Börsenprospekte der beiden Unternehmen: Zalando rechnet stolz vor, dass etwa zwei Drittel der europäischen Bevölkerung in einem Radius von einer neunstündigen Lkw-Fahrt rund um eines der bestehenden Logistikzentren leben, dass der Internethändler damit über Kapazitäten verfüge, mit der sich Bestellung im doppelten Wert der derzeitigen Erlöse liefern lassen, ohne neue Anlagen zu bauen. Rocket Internet hingegen räumt in der Auflistung der Risiken ein, dass die Start-ups unter dem Dach der Holding zwar nur eine kurze Historie vorweisen können, dafür aber schon bedeutende Verluste. Sie "erfordern einen hohen Kapitaleinsatz und werden möglicherweise nie gewinnbringend sein."