Sue Black liest aus Händen den Horror heraus. Polizei oder FBI rufen die Anatomin von der Universität Lancaster, wenn Ermittler Videos finden, auf denen Kinder missbraucht werden. Vom Täter ist darauf oft nur ein Körperteil zu sehen: seine Hand. Black und ihr Team analysieren die einzigartigen Muster aus Venen, Falten, Sommersprossen und Narben, und gleichen sie mit denen der Verdächtigen ab. Viele Täter gestehen erst, wenn sie mit einem Treffer der Experten konfrontiert werden. "Keinem wächst einfach so eine neue Vene oder eine Hautfalte über dem Fingerknöchel", sagt Black - die von der Queen in den Ritterstand erhoben wurde - vor dem Saal, in dem Informatiker und Beamte sitzen.
Am Fraunhofer-Institut für Graphische Datenverarbeitung in Darmstadt haben sich diese Woche europäische Biometrie-Forscher getroffen. Geladen hat ihr Verband, die European Association for Biometrics (EAB).
Spätestens seit sich marktübliche Smartphones mit Fingerabdruck- oder Gesichtserkennung entsperren lassen, boomt das Feld der Biometrie-Forschung. In Darmstadt diskutieren die Experten Fragen zur Technik: Wie liefern Fingerabdruck-Scanner noch klarere Bilder? Was tun gegen Betrüger, die mit farbigen Kontaktlinsen Iris-Scanner austricksen? Wie lässt sich verhindern, dass Porträtfotos für Gesichtserkennung in falsche Hände geraten?
Videospiel-Technik soll Menschen an Flughäfen erfassen
Nicht alle Geschichten hier sind heldenhaft wie die von Sue Black. Denn die Biometrie ist ein hochpolitisches Feld geworden, nicht nur wegen der heiklen Datenschutzfragen - immer mehr Körpermerkmale liegen in immer mehr staatlichen oder privaten Datenbanken. Die EU pumpt Millionen Euro in die vorgestellten Projekte, auch weil sie hofft, dass am Ende der Forschung technische Lösungen stehen, vor allem für Polizei und Migrationsbehörden. Die Reden der Kommissionsvertreter in Darmstadt sind eindeutig: Der Forschungskosmos soll eine Pipeline von Ideen für die Überwachung der Grenzen sein.
Dabei geht es um mehr als um die rein technische Frage, wie zum Beispiel Microsofts Bewegungsdetektor "Kinect" - ursprünglich für Videospiele gebaut - am Flughafen Passagiere anhand ihres Gangs identifizieren kann. Es geht um Grenzschutz, oder, wie Gegner einer harten Migrationspolitik sagen: um Abschottung. Mehrere Projekte testen etwa, wie sich biometrische Merkmale von Handvenen bis zum Wärmebild des Gesichts kombinieren lassen, um "Smart Borders" um Europa zu ziehen: Wer rein darf, soll zügig reinkommen, möglichst ohne Kontakt mit menschlichen Beamten. Wer aber nicht rein darf, soll keine Chance haben.
Dass die Forscher-Gemeinde beste Kontakte zu den Grenzschützern unterhält, zeigt sich auch an Rasa Karbauskaite, IT-Expertin der Grenzschutzbehörde Frontex, die im Rat der EAB sitzt. Aber nur als "individuelles Mitglied", erklärt EAB-Vorsitzender Alexander Nouak, Frontex selbst sei kein Mitglied.
Zur Konferenz sind nicht nur Informatiker, Ingenieure und Unternehmer gekommen, sondern auch Vertreter der norwegischen und niederländischen Polizei. Aus den USA haben Pentagon und Heimatschutzministerium Vertreter geschickt. Sie erhoffen sich Inspiration, um ihre Grenzen abzudichten.
High-Tech gegen Goldschmuggler
Der Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko (Linke) weist dagegen auf Risiken der Biometrie-Technik hin: "Wir beobachten einen nie dagewesenen Ausbau der Gesichtserkennung bei Polizei und Grenzpolizei. Das Missbrauchspotenzial dieser neuen Datenbanken ist erheblich."
Wie ambitioniert die High-Tech-Träume sind, zeigt der Vortrag des Gesandten der polnischen Grenzpolizei. Das Projekt "Foldout" soll bislang schwer zu überwachende Wälder in den Blick nehmen. Das System kombiniert Infrarot-Kameras, seismische Sensoren, Radar und Laser-Abtastung, wie sie auch in autonom fahrenden Autos eingesetzt werden. Dazu kommen drei Ebenen der Überwachung in der Luft: Filmende Drohnen, darüber der "Stratobus", eine Art Zeppelin, der auf 20 000 Metern Höhe Daten über Bewegungen an der Grenze sammelt. Darüber wird noch einmal ein Satellit eingebunden. Neben der finnischen, ungarischen und griechischen Grenze soll ein weiteres "Foldout"-Pilotprojekt auch Goldschmuggler aufspüren - in Französisch-Guyana, einem Überseedépartement Frankreichs in Südamerika, das zur EU gehört.
Viele der Projekte setzen auf "maschinelles Lernen". So unterstützt selbstlernende Software auch Sue Blacks Analysen von Händen, weil sie und ihre Mitarbeiter nicht mehr hinterherkommen, auch Microsoft ist an Bord. Tausende Freiwillige haben ihre Hände mit dem Smartphone fotografiert und den Forschern geschickt: Lernmaterial für die Software, damit sie sich einprägt, welche Muster sich auf Händen finden lassen. Sie soll auch Polizisten ersparen, sich stundenlang durch brutales Bildmaterial klicken zu müssen.
In zahlreichen Anwendungsfällen kann Maschinenlernen zwar nicht halten, was das Marketing von Start-ups verspricht. Geht es um biometrische Systeme, kommt die Stärke selbstlernender Software aber zum Tragen, vor allem beim Erkennen von Mustern in großen Datenmengen. Die Hoffnung ist zum Beispiel, dass Algorithmen wie der des Projekts "SOTAMD" Passbilder erkennen können, die zuvor mit so genanntem Morphing manipuliert wurden: Betrüger können aus einem Foto von sich und dem eines echten Passinhabers ein neues erzeugen lassen, das beiden ähnlich sieht - entsprechende Apps kann jeder auf sein Smartphone laden. Mit dem Bild aus miteinander verschmolzenen Gesichtern lassen sich Erkennungs-Systeme überlisten. Wie sich verhindern lässt, dass jemand mit einem gemorphten Pass einreist, gilt auf der Konferenz als eines der drängendsten Probleme. Auch das Bundeskriminalamt unterstützt SOTAMD, das vom niederländischen Registrationsamt geleitet wird.
Eine wichtige Frage, die sich aus all dem ergibt, ergründen die Forscher des Projekts "Bodega": Wie lässt sich verhindern, dass die verbleibenden menschlichen Grenzbeamten vollkommen demotiviert werden, wenn ihnen Maschinen und Software fast alles abnehmen?