Vor knapp einem Jahr berichtete Süddeutsche.de über die Bürgerbewegung O topos mou im griechischen Katerini. Eines ihrer Ziele: Menschen günstig mit Lebensmitteln zu versorgen. Georgios Baliakas, Lehrer und nebenbei Schauspieler am Theater in Katerini, macht bei O topos mou mit. Glaubt man offiziellen Stellen wie Notenbank und Regierung, hat sich die Lage verbssert. Griechenlands Wirtschaft soll bald wieder wachsen. Baliakas kann selbst mit diesen vorsichtigen Schätzungen nichts anfangen.
Süddeutsche.de: Herr Baliakas, manche Ökonomen glauben, dass Griechenland das Schlimmste überstanden hat. Macht sich das im Alltag bemerkbar?
Georgios Baliakas: Die Zuversicht überrascht mich. Mein Eindruck - und sicher nicht nur meiner - ist: Es ist alles noch schlimmer geworden. Gerade in den letzten Monaten ist es noch mal steil bergab gegangen. Hier fragt sich jeder: Wo ist der Tiefpunkt? Die Arbeitslosigkeit liegt bei rund 29 Prozent - offiziell zumindest. Die tatsächlichen Zahlen dürften noch einige Prozentpunkte höher liegen. Bei den Jugendlichen sind mehr als 60 Prozent arbeitslos. Für viele ist die Lage so dramatisch, dass sie nur noch einen Ausweg sehen: sich umzubringen. Die Selbstmordrate in Griechenland ist drastisch gestiegen. Dabei zählten wir bislang zu den EU-Ländern mit besonders niedriger Rate.
Kurz vor Weihnachten hat das Parlament beschlossen, dass die Wohnungen der Menschen, die ihre Kredite nicht zurückzahlen, zwangsversteigert werden können. Droht Griechenland nun ein Heer von Obdachlosen?
Ich denke schon. Zumindest ist Schockierendes über Zwangsversteigerungen zu lesen. Man kann natürlich nicht alles nachprüfen, was geschrieben wird. Aber es macht mich wütend: Wir haben ein politisches System, das mit seinen provokativen Äußerungen und Gesetzen das ganze Volk unterdrückt und erpresst. Doch die Täter, alle diejenigen die die große Verantwortung tragen, werden nicht bestraft.
Inwiefern erpresst die Regierung das Volk?
In dem es die Leute in Angst und Unsicherheit hält. Uns Lehrern beispielsweise droht ständig die Entlassung: Wer nicht spurt, kann sofort gehen. Bei den Beschäftigten herrscht maximale Unsicherheit. Das ist Prinzip. Keiner soll sich unabhängig fühlen. Armut zwingt die Leute zur Unterordnung. Und nun droht auch noch vielen der Verlust der Wohnung.
Was war bislang anders?
Bis Dezember gab es einen gewissen Schutz für Schuldner, die ihre Darlehen nicht bezahlen konnten: Ihre Wohnungen durften nicht zwangsversteigert werden. Nun aber werden Zehntausende Häuser oder Wohnungen unter den Hammer kommen.
Griechenlands Geldgeber argumentieren, dass aufgrund dieser Regel auch jene ihre Kredite nicht mehr zurückzahlten, die eigentlich genug Geld hätten ...
Aber in der Hauptsache schützte das Recht die einfachen Leute, die sich nach vielen Jahren Arbeit eine Wohnung leisten konnten und sie nun zu verlieren drohen! Hinzu kommt neuerdings: Wenn einer dem Staat Geld schuldet, kann dies durch die Bank entweder direkt vom Guthaben oder vom laufendem Einkommen abgezogen werden. Einfach so. Ohne Rücksprache.
Wie reagieren die Menschen?
Alle sind wie betäubt. Vor einem Jahr gab es noch Proteste in Athen und anderen großen Städten. Es gab die Wahlen, in denen sich die Leute zumindest mit ihrer Stimme äußern konnten. Doch es hat nichts genutzt: Alles ging danach in die gleiche Richtung weiter. Vor einiger Zeit las ich, dass Großbritannien in Brüssel vorgeschlagen habe, die Grenzen zu den südeuropäischen Ländern zu schließen. Ich weiß nicht, ob es stimmt. Doch die Wirkung solcher Artikel ist verheerend. Europa stößt uns weg.
Sie sind selbst Lehrer - sind Sie persönlich von den Sparmaßnahmen betroffen?
Sicher, wobei ich und meine Frau noch Glück gehabt haben. Zu den 150.000 Staatsbediensteten, die gemäß den Forderungen der Troika entlassen werden sollen, zählen auch die Lehrer auf allen Stufen - von der Grundschule bis zu den Universitäten. Angefangen hat es bei den Lehrern auf der zweiten Stufe, also jenen, die die Klassen sieben bis zwölf unterrichten. Da wird ganz einfach gerechnet: Wie viele Lehrer gibt es, wie viele brauchen wir - und der Rest sollte weg. Nicht alle werden entlassen, viele aber bekommen Stellen irgendwo anders im Land zugeteilt. So ist es auch mit meiner Frau. Sie wohnt nun knapp 200 Kilometer entfernt.
Familien werden auseinandergerissen?
Sie brechen regelrecht auseinander, genau. Man verliert das Recht auf Familienleben. Da gibt es Mütter, die haben kleine Kinder. Der Vater wohnt auf dem Peloponnes, die Mutter in Athen und die übrigen Kinder hier in Katerini bei den Großeltern. Das ist nur ein Beispiel. Aber wie sollen die sich noch sehen? Das Autofahren ist teuer: Benzin, Autobahngebühren - da kommt vieles zusammen. Manchmal so viel, dass sich Leute entschließen, eine angebotene Stelle irgendwo in Griechenland nicht anzunehmen, weil das Gehalt nicht reicht, um die Kosten für eine neue Wohnung und die Fahrten abzudecken.
Wir hatten im vergangenen Winter über die Bürgerbewegung O topos mou berichtet, ein Netzwerk, über das viele Menschen beispielsweise günstig mit Lebensmitteln versorgt werden. Wie läuft es dort?
Es hat sich viel getan. Mittlerweile gibt es in den Räumen von O topos mou eine Praxis, in der Ärzte abwechselnd kostenlos praktizieren. Überdies sammeln wir nun Medikamente, weil viele sich Medizin in den Apotheken nicht mehr leisten können. Wenn Menschen beispielsweise Arzneien angefangen aber nicht aufgebraucht haben, überlassen sie sie uns. Das ist eine enorme Hilfe.
Wie haben fünf Jahre Krise die Gesellschaft verändert?
Da muss ich an ein Theaterstück von Eugène Ionesco denken. Es heißt "Die Nashörner". Darin beschreibt Ionesco eine kleine Stadt, wo sich alle Menschen nach und nach symbolisch in Rhinozerosse verwandelten. Sie werden entmenschlicht und arrangieren sich mit dem neuen animalischen Dasein. Das Stück endet mit dem inneren Kampf und Konflikt von Behringer - dem letzten Mann, der noch Mensch geblieben ist. Bei uns ist es nun umgekehrt. Seit Jahrzehnten hatten sich viele hier in Griechenland in Nashörner verwandelt. Doch nun werden mehr und mehr von ihnen durch die große Not wieder zu Menschen.
Wer selbst ganz ohne Geld (abgesehen vom Porto) helfen möchte, kann Medikamente nach Griechenland schicken, die er nicht mehr benötigt. Elias Tsolakidis von der Bürgerbewegung O topos mou versichert, dass alle eingesandten Medikamente registriert und kostenlos abgegeben werden. Wie das funktioniert, steht auf www.kikaf.org.