Das Festival "South by Southwest" im texanischen Austin ist ein magischer Ort. Hier präsentieren Nerds und Künstler jedes Jahr ihre Ideen und suchen nach neuer Inspiration. Hier startete einst der Siegeszug von Twitter. Und hier könnte nun auch Tinnitracks der Durchbruch gelingen. Schließlich geht es bei dem Dienst, den das Hamburger Start-up Sonormed entwickelt hat, nicht nur darum, eine Nachricht auf 140 Zeichen zu verschicken. Es geht um etwas Größeres: Jörg Land, einer der drei Gründer, wird an diesem Samstag auf der großen Bühne zeigen, wie sich ein Tinnitus mit einer einfachen App therapieren lässt.
Allein in Deutschland leiden etwa drei Millionen Menschen unter Tinnitus. Es ist ein Klingeln, Piepen oder Rauschen, das sich durch eine Entzündung, nach einem Hörsturz oder zu viel Lärm einschleicht. Und zwar nicht im Ohr, sondern im Gehirn. Dort verursachen überreizte Nervenzellen das lästige Geräusch. Dieses Leiden lässt sich zwar nicht heilen, aber lindern.
Jede Nervenzelle im Hörzentrum verarbeitet nämlich eine bestimmte Frequenz. Bei einem Tinnitus sind manche Zellen krankhaft überaktiv. Mit Musik, aus der die betroffenen Frequenzen herausgefiltert werden, lassen sich die umliegenden Nerven stimulieren. Das ist die Idee von Tinnitracks: Das Gehirn wird trainiert, besser mit dem Tinnitus zurechtzukommen. Die Intensität des lästigen Tons im Ohr kann so um gut 25 Prozent gesenkt werden, wie Forscher am Uniklinikum Münster vor einiger Zeit nachgewiesen haben. Doch es fehlte lange an der technischen Lösung für solch eine Therapie.
Heavy Metal ist geeignet
Damit hat sich schließlich Adrian Nötzel, 30, in seiner Abschlussarbeit beschäftigt - und damit den Grundstein für Tinnitracks gelegt. Eine Software prüft, ob sich ein Musikstück für die Therapie eignet, und bereitet es, nachdem ein Arzt den geschädigten Nerv und die entsprechende Frequenz festgestellt hat, für eine individuelle Behandlung auf. Heavy Metal ist dafür übrigens durchaus gut geeignet; Hörbücher hingegen nicht, weil das Frequenzspektrum von Sprache zu schmal ist.
Heute ist Nötzel, der Toningenieur, bei dem Start-up, das er vor zweieinhalb Jahren mit zwei Bekannten gegründet hat, für die Produktentwicklung zuständig. Der Informatiker Matthias Lanz, 34, kümmert sich um die Technik, der Betriebswirt Jörg Land, 37, um die Vermarktung - und deshalb auch um den großen Auftritt in Austin. Während Nötzel und Lanz in einem ehemaligen Schlachthof mit inzwischen zehn anderen Entwicklern an der Technik tüfteln, tingelt Land durch die Gegend.
Er spricht mit Audiologen und mit Hörgeräteakustikern, mit Förderern und Geldgebern. Er sucht fachlichen Rat, Geschäftspartner - und: Aufmerksamkeit. Die Welt der Gesundheitsdienste ist eine ziemlich verschlossene Welt. "Manchmal habe ich das Gefühl, die schauen sich erst einmal an, was es Neues gibt - aber für eine Zusammenarbeit muss erst der Beweis der Zuverlässigkeit erbracht sein, was dann auch gerne mal das erste Jahr dauert", sagt Land. "Nicht hart, aber hartnäckig" sei er die Partner deshalb angegangen.
Partnerschaft mit der Industre
Mit Auszeichnungen bei verschiedenen Wettbewerben hat sich das Start-up auch Vertrauen erworben. Das erste Geld kam aus Fördertöpfen und eigenen Ersparnissen. Sonormed arbeitet im Hamburger Schanzenviertel und nicht im Silicon Valley: Da klopfen Gründer bei der Sparkasse an - und nicht bei einem Risikokapitalgeber. Da geht alles etwas langsamer voran.
Die meisten Patienten, das wissen die drei aus vielen Gesprächen, halten bei einer Therapie länger durch, wenn sie sich zu Hause Musik anhören können - statt in eine Praxis gehen zu müssen. Man kann sie auch unterwegs hören. Allerdings nur, wenn die Kopfhörer keine anderen Geräusche durchlassen. Deshalb haben die drei ihre Idee schon zeitig bei Sennheiser vorgestellt und das Unternehmen schließlich für eine Partnerschaft gewonnen. Auch das schafft Vertrauen.
In den vergangenen zweieinhalb Jahren haben die Gründer etwa 100 Ärzte und Hörgeräteakustiker in der ganzen Republik für ihre Sache gewonnen: Diese empfehlen den Dienst und helfen auch bei speziellen Fragen. Zur Therapie meldet man sich auf der Internetseite von Tinnitracks an, gibt den vom Arzt ermittelten Frequenzwert seines Tinnitus ein, wählt seine Lieblingsmusik aus - und lädt die von der Software gefilterten Stücke runter. Der Service kostet den Patienten allerdings 539 Euro als Lizenzgebühr für ein Jahr. Eine hohe Hürde.
Bislang haben sie einige Hundert Menschen genommen. Um mehr Patienten zu locken, haben die Gründer darüber nachgedacht, wie sie die Hürde senken können. Die Lösung war die App, die nun in Texas vorgestellt und dann sowohl im App-Store von Apple als auch in einer Android-Version erhältlich sein wird. Der Vorteil: Mit der App ist es technisch möglich, den Kontakt zum Kunden zu halten. Der Patient kann nicht nur direkter betreut werden. Man kann ihm auch anbieten, die Therapie erst einmal 14 Tage lang kostenlos zu testen und dann für monatlich 19 Euro zu verlängern - also für deutlich weniger als das teure Jahrespaket von der Website.
Ein paar Tage vor seinem großen Auftritt in Austin sitzt Jörg Land auf einer Bierbank. Er hat ein iPhone dabei, auf dem bereits testweise eine App läuft. Das Ganze erinnert an ein gängiges Musikprogramm - nur dass in der Mitte ein Kreis zu sehen ist. Darin zeichnet eine grüne Linie nach, wie viel man von der empfohlenen Therapiezeit von 90 Minuten täglich schon erreicht hat. Wie viel man noch zu erfüllen hat, steht auch da.
Lieblingslieder für die Therapie
Ehe die Lieblingslieder zur Therapie taugen, muss man sie auch weiterhin Tinnitracks zur Bearbeitung geben. Land greift sich eine Pappschachtel, legt sie in einige Entfernung vom iPhone. "Das ist unser Server, dort wird die Musik durch einen komplizierten Algorithmus gefiltert, analysiert und optimiert", sagt er. Der Patient bekommt das bearbeitete Musikstück anschließend zurück aufs Mobiltelefon. Würde der Filter direkt auf dem iPhone des Patienten laufen, würde das dort nicht nur viel Batterielaufzeit fressen. Das Telefon bräuchte auch, um den aufwendigen Algorithmus arbeiten zu lassen, eine enorme Leistung. So aber funktioniert die Therapie auch auf älteren Geräten.
Wischt man von der Playliste nach rechts, gelangt man zu ein paar Diagrammen, die zeigen, wie gut man den Therapieplan eingehalten hat. So kann der Patient selbst und später auch mit seinem Arzt kontrollieren, wann er sich noch etwas anstrengen sollte. In der alten Welt von Tinnitracks war das nicht möglich: Hatte sich ein Patient die Musik von der Internetseite heruntergeladen, so hatte das Start-up den Kontakt zu ihm verloren. Mit der App kann es diesen nun halten, dem Patienten stets anzeigen, was er schon geschafft hat - und ihm auch Nachrichten schicken, ihn für seinen Fleiß loben oder ihn bei etwas Nachlässigkeit wieder antreiben.
Mit der App könnte Tinnitracks auch leichter Landesgrenzen überwinden. Deshalb ist der Auftritt in Austin so wichtig: "Die Menschen dort sind neuen Technologien gegenüber sehr aufgeschlossen", sagt Land. Bislang aber ist die Expansion nur eine Idee. Der Endspurt bei der App-Entwicklung sei hart genug gewesen, sagt Land. Jetzt müsse das Team erst mal richtig ausschlafen.