Anonyme Insolvenzler:Reden über das Unsagbare

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Bei den Anonymen Insolvenzlern sprechen Betroffene über ihre Schulden, ihren Scham - und das Leben nach der Pleite. Der Andrang wird immer größer.

Alina Fichter

Jens Bergmann fährt sich mit beiden Händen übers Gesicht. Dann hebt er sein Limonadenglas hoch, führt es zum Mund, hält inne. Er seufzt. Stellt es wieder ab, ohne getrunken zu haben. Der 45-Jährige in Jeans und weißem Kragenhemd trägt einen auffallend exakt rasierten Bart, der etwas weniger ergraut ist als sein Haupthaar.

Schulden haben - das hat etwas mit Schuld zu tun, glauben viele Betroffene. (Foto: Foto: dpa)

Er bemerkt nicht, dass der Kellner des kleinen Münchner Ecklokals schon ein paar Mal versucht hat, seine Aufmerksamkeit zu erhaschen: "Wollen Sie etwas essen?" Bergmanns Gedanken sind weit weg, sie sind bei den Menschen, die er gerade im Selbsthilfezentrum München kennengelernt hat und mit denen er die vergangenen zwei Stunden verbrachte. "Ihre Geschichten sind mir nahe gegangen", sagt er so leise, dass es fast nicht zu hören ist.

Dabei macht Bergmann doch gerade genau das gleiche durch wie die anderen drei Frauen und acht Männer, mit denen er gerade noch im Stuhlkreis saß: Wie sie hat er Insolvenz angemeldet, er möchte daher seinen echten Namen nicht preisgeben. Wie sie ist er verzweifelt und weiß nicht, wie es weitergehen soll.

Jeden vierten Montag im Monat trifft sich eine Gruppe, die sich Anonyme Insolvenzler nennt, um über ihre Angst vor der Zukunft, ihre Scham, ihre Geldsorgen zu sprechen.

Für Bergmann war es das erste Treffen. Er ist gekommen, weil er erfahren wollte, wie es anderen geht, die pleite sind, die plötzlich ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können, die am Abgrund stehen wie er. Und um zu erfahren, was er jetzt am besten tun kann, um so normal wie möglich weiterzuleben.

Eine knappe Million Euro Schulden lasten auf Bergmanns Schultern. "Irgendwann habe ich gemerkt - die kann ich im Leben nicht mehr abbezahlen", sagt er und starrt in sein Limonadenglas. "So viel verdiene ich ja nicht. Und ich habe drei Kinder, die kosten Geld."

Bergmann ist so schmal und blass, dass er sich kaum von der getünchten Wand abhebt, vor der er sitzt. Seine Schultern hängen herab, aber er hat den Körper eines Mannes, der einmal viel Sport getrieben hat. Früher, bevor die Geldsorgen ihm die Energie dafür auffraßen.

Stigma des Versagens

Menschen wie ihm wollte Attila von Unruh helfen, als er die Anonymen Insolvenzler gründete: Eine Anlaufstelle für Hochverschuldete schaffen, die in ihrer Verzweiflung oft nicht wissen, an wen sie sich wenden können. Deshalb gründete er 2007 eine erste Selbsthilfegruppe in Köln. Zwei Jahre zuvor war er selbst pleite gegangen: "Ich habe mich damals sehr allein gefühlt", erzählt er. So geht es den meisten: Viele verkriechen sich und verheimlich ihr Schicksal lieber, weil sie sich schämen. Schulden haben, das hat etwas mit Schuld zu tun, glauben sie.

Der Insolvenz haftet das Stigma des Versagens an, in Deutschland noch mehr als in anderen Ländern. Viele fürchten daher, das Ansehen ihrer Mitmenschen zu verlieren. "Dabei können viele Leute gar nichts dafür", sagt Unruh. "Und ganz sicher hilft es jedem, über die Probleme zu reden." Tatsächlich traf sein Angebot einen Nerv. Der Zulauf in Köln war beachtlich, rasch entstanden in Hamburg, Berlin und München neue Gruppen. In Paderborn und Düsseldorf sind sie gerade im Aufbau. An manchen Tagen erhält Unruh 50 neue Anfragen. Inzwischen bekommt die Gruppe sogar Unterstützung von einer Unternehmensberatung und einem Privatbankier.

Dass immer mehr Leute bei Unruh anrufen, ist eigentlich kein Wunder, denn die Zahl der Insolvenzen steigt ständig: Allein in diesem Jahr gingen laut Statistischem Bundesamt bisher 16.142 Unternehmen pleite, im vergangenen Jahr waren es zur gleichen Zeit nur 14.650. Und auch wenn sich die Lage bei der privaten Verschuldung derzeit etwas entspannt, Fachleute rechnen im nächsten Jahr wieder mit steigenden Zahlen (Beitrag oben). Spätestens dann werden Schuldnerberater in ganz Deutschland wieder Zulauf verspüren. "Es dauert, bis wirklich alles zusammenkracht", sagt Peter Schubert von der Schuldnerberatungsstelle der Caritas in München.

Jens Bergmanns Kampf hat fünf Jahre lang gedauert, dann konnte er nicht mehr. "Dann musste ich mir eingestehen dass meine Schulden zu hoch sind, um damit weiterleben zu können." Der Flaschenhals sei ganz langsam immer enger geworden. Zuerst wolle man es nicht wahrhaben, was sich da anbahnt. Irgendwann sei es dann zu spät gewesen, das war Anfang dieses Jahres. Wenig später meldete er die Privatinsolvenz an.

"Es kann jeden treffen"

Den Kellner hat Bergmann mittlerweile weg geschickt, er will heute Abend nichts essen. Kopfschüttelnd sagt er: "Ich dachte immer: Pleite gehen nur Leute, die nicht mit Geld umgehen können." Dass ihm so etwas widerfahren könnte, damit hätte er nie gerechnet. "Aber es kann jeden treffen", hat Bergmann erkannt.

Die Insolvenz ist der letzte Schritt; sie wird angemeldet, wenn sonst gar nichts mehr geht - und sie ist ein scharfer Einschnitt: Bei Verbrauchern dauert sie mindestens sechs Jahre lang. In dieser Zeit muss praktisch jede berufliche und finanzielle Entscheidung mit dem Insolvenzverwalter besprochen werden, das Gehalt fließt bis zu einer niedrigen Grenze an die Gläubiger. Bei den wenigsten Banken kann man noch ein eigenes Konto eröffnen, ein neuer Kredit ist sowieso tabu. Erst nach dieser "Wohlverhaltensphase" kann der Schuldner von der restlichen Schuld befreit werden - und wieder von vorne anfangen.

Bergmann hat die sechs Jahre noch vor sich, er hat die Insolvenz gerade erst angemeldet. Dabei schien vor ein paar Jahren alles so perfekt: Nach einer Scheidung hatte er sich endlich neu verliebt, bald darauf geheiratet und schließlich zum dritten Mal Vater geworden. "Ich wollte meiner Familie eine Heimat bieten", erzählt er. Ein eigenes Haus sollte es sein.

Ein Cousin war Architekt und bot sich als Bauherr an. "Wie praktisch, dachte ich mir damals", so Bergmann, "ich hab ihm blind vertraut." Naiv sei das gewesen, im Nachhinein betrachtet. Denn der Cousin forderte immer mehr Geld, viel mehr als anfangs - mündlich - vereinbart. "Natürlich sprengte das unsere enge finanzielle Kalkulation völlig", sagt Bergmann.

Irgendwann war der Cousin mit dem ganzen Geld verschwunden. Nichts war fertig, er hatte die junge Familie einfach um mehrere Hunderttausend Euro betrogen. Die Baustelle, die einmal das Haus von Familie Bergmann werden sollte, war völlig verlassen. Bergmann nahm einen neuen Kredit auf. "Sonst wäre das Haus unfertig in dem Dorf gestanden, in dem wir seit zehn Jahren leben", sagt er. "Ein Baustopp? Mein Gott, wäre das peinlich gewesen."

Auch wenn er so das Gesicht wahren konnte - finanziell hatte sich Bergmann übernommen. "Schon Mitte des Monats hatten die Raten meinen ganzen Verdienst aufgefressen", sagt er. "Auf dem Konto war gähnende Leere." Bergmann hatte nichts mehr, um die Stromrechnung zu bezahlen können, oder das Benzin für den Wagen. Oder wovon er Essen und Schulsachen für die neunjährige Tochter hätte kaufen können. "Als ich merkte: Jetzt geht es um das Leben meiner Kleinen - da ging ich in die Knie."

Erdrückende Geschichten

Die meisten der Münchner Anonymen Insolvenzler fühlen sich ganz ähnlich: Die Verzweiflung treibt sie e in den Stuhlkreis des Selbsthilfezentrums München, auch wenn ihre Geschichten immer andere sind. Da ist ein Börsenmakler, der Millionen verzockt hat und jetzt scheinbar kühl zugibt, dass er täglich an Selbstmord denke. Da ist eine 60-Jährige, die die sechs Jahre der Privatinsolvenz fast hinter sich hat - aber in ihrem Alter keinen Job mehr findet. Und da ist ein Arzt, der sich beim Insolvenzverwalter informieren wollte, was nun zu tun sei, nachdem er sich seine Zahlungsunfähigkeit eingestehen musste. Und den der Insolvenzverwalter übers Ohr gehauen hat.

Erdrückend sei das Gefühl dort gewesen, erdrückend die Geschichten, sagt Bergmann: "Ein paar Mal ist mir das Wasser in die Augen gestiegen." Aber irgendwie fühlt sich Bergmann auch befreit: "Ich bin nicht der einzige. Das habe ich jetzt verstanden." Auch wenn ihm die Angst, sein Haus zu verlieren und mit der Familie wegziehen zu müssen, den Schlaf raubt. Dann wüsste jeder im Dorf, dass er versagt habe, sagt er.

Bei den Anonymen Insolvenzlern soll jeder seine Geschichte erzählen und um Rat Fragen dürfen. Moderiert werden die Gruppen von Betroffenen mit mehr Erfahrung; solche, die wissen, was zu welchem Zeitpunkt zu tun ist, wenn der Flaschenhals zu eng geworden ist. "Einen Anwalt oder Schuldnerberater können sie trotzdem nicht ersetzen", sagt Peter Schubert von der Caritas. Aber das ist auch gar nicht der Zweck. Es geht um emotionale Unterstützung. Zuhören, darüber sprechen. Es geht darum, das Selbstwertgefühl wieder zu stärken.

Der Abend hat Jens Bergmann mitgenommen. Seine Limonade hat er ganz langsam ausgetrunken, Schluck für Schluck. Am Ende des Abends spürt er vor allem noch eins: Erleichterung. "Ich habe gesehen, dass ich nicht alleine bin", sagt er. Zum nächsten Treffen kommt der 45-Jährige ganz bestimmt. Auch, um zu sehen, wie es den anderen so geht.

© SZ vom 05.11.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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