Abgasaffäre:Kleine Gruppe, großer Kreis

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Chefkontrolleur Hans Dieter Pötsch (links) und VW-Chef Matthias Müller (rechts) müssen die Affäre aufklären. Ex-Konzernchef Martin Winterkorn ist bereits zurückgetreten. (Foto: Marijan Murat/picture alliance / dpa)

Der Aufsichtsrat hält an seiner Theorie fest: Für die Affäre seien nur wenige verantwortlich. Dabei legt eine brisante Mail, die seit dem Herbst bekannt ist, etwas anderes nahe.

Von Thomas Fromm und Klaus Ott

Wenn die Ermittler der US-Kanzlei Jones Day Bericht erstatten, läuft das nach festen Regeln ab: Papiere werden nicht verteilt, denn wenn niemand etwas mitnimmt, kann auch nichts nach draußen dringen. So war es auch bei einer Sitzung von VW-Aufsichtsräten im Herbst 2015. Der Bericht der Ermittler wurde nicht verteilt, sondern vorgetragen. Vor allem ein Vermerk, den die von VW wegen der Abgas-Affäre angeheuerten Aufklärer präsentierten, müsste für die Kontrolleure eigentlich alarmierend geklungen haben: Die Notiz vom Mai 2014 ging vom VW-Manager Bernd Gottweis an den damaligen Konzernchef Martin Winterkorn. Mehr als eineinviertel Jahre, bevor der Skandal publik wurde, informierte Gottweis seinen Chef Winterkorn über Messungen der US-Behörden, bei denen die Stickstoffwerte bei Dieselmotoren den zulässigen Grenzwert um das bis zu 35-Fache überschritten.

Im Nachhinein klingt es wie ein Hilferuf: "Eine fundierte Erklärung für die dramatisch erhöhten NOx-Emissionen kann den Behörden nicht gegeben werden. Es ist zu vermuten, dass die Behörden die VW-Systeme daraufhin untersuchen werden, ob Volkswagen eine Testerkennung in die Motorsteuergeräte-Software implementiert hat (sogenanntes Defeat Device)", schrieb Gottweis an Winterkorn.

Ein einziger Satz mit großer Sprengkraft. Wurde er einfach nur übersehen?

Ein Satz, der für Menschen, die sich auskannten, ungeheure Sprengkraft enthielt. Und der ausgebildete Ingenieur Winterkorn ist einer, der sich eigentlich auskennt. Ein Satz, in dem schon alles drin war: Dramatisch erhöhte Stichstoffwerte! Motorensteuergeräte-Software! Defeat-Device! "Über diesen Sachverhalt sind Aufsichtsräte im Herbst 2015 unterrichtet worden", bestätigt ein Insider der SZ.

Wenige Wochen, nachdem Aufsichtsräte über den Vermerk vom Mai 2014 für Winterkorn unterrichtet worden waren, veranstaltete VW in Wolfsburg eine Pressekonferenz, bei der Winterkorns Nachfolger als Vorstandschef, Matthias Müller, und der neue Aufsichtsratschef Hans Dieter Pötsch über die Lage des Konzerns informierten. Außerdem nahm Pötsch, der zuvor Finanzvorstand von Volkswagen gewesen war, Stellung zu dem Stand der internen Ermittlungen bei VW: "Ich denke wir haben rausgearbeitet, dass wir jedenfalls nach dem heutigen Kenntnisstand davon ausgehen können, dass es sich bei den Vorfällen darum handelt, dass eine sehr überschaubare Gruppe hier Fehler begangen hat, unverantwortlich gehandelt hat. Wir haben keine Erkenntnisse über die Involvierung von Aufsichtsrat oder Vorstand vorliegen." Das klingt so, als wolle man in den Chefetagen in Wolfsburg auf keinen Fall mit Winterkorn brechen. Als wolle man die Affäre unbedingt fernhalten vom alten Management, das auch heute noch gut vertreten ist im Konzern. Bis hin zu Aufsichtsratschef Pötsch, der in dem von Winterkorn geleiteten Vorstand saß.

Die Frage ist: Warum hat Pötsch sich nicht vorsichtiger geäußert und so zumindest den Eindruck erweckt, es läge nichts vor, was die alten Konzernspitze belasten könnte? Warum hat Pötsch nicht einmal andeutungsweise den Vermerk von Gottweis erwähnt, in dem Winterkorn bereits im Mai 2014 auf ein möglicherweise drohendes Unheil in den USA hingewiesen worden war? Der frühere Vorstandschef ist zu diesem Gottweis-Vermerk bereits von Anwälten der Kanzlei Jones Day befragt worden. Bei der Fragerunde soll Winterkorn beteuert haben, ihm sei vor September 2015 nichts von manipulierten Abgas-Messungen in den USA bekannt gewesen. Das erklärt der langjährige Konzernchef seit Beginn der Affäre. Das ist aber vermutlich nicht der Punkt, auf den es mittlerweile ankommt. Nach jetzigem Kenntnisstand geht es vielmehr darum: Hat Winterkorn auf die Information von Gottweis von Mai 2014 richtig reagiert? Hat er nachgehakt, und falls ja, hat er energisch genug nachgehakt? Hier greift die sogenannte Organverantwortung eines Vorstandschefs. Zu seinen Aufgaben gehört es, das Unternehmen so zu organisieren, dass größere Verfehlungen nach menschlichem Ermessen verhindert werden. Gottweis ist ein Mann, den sie im Konzern den "Feuerwehrmann" nennen, weil es seine Aufgabe war, Flammen gleich von Anfang zu löschen und so einen Flächenbrand zu verhindern. Genau das hat aber in der Abgas-Affäre nicht funktioniert. Winterkorn wiederum war im September 2015, eine Woche nach Bekanntwerden des Diesel-Skandals, mit den Worten zurückgetreten: "Ich bin bestürzt über das, was in den vergangenen Tagen geschehen ist. Vor allem bin ich fassungslos, dass Verfehlungen dieser Tragweite im Volkswagenkonzern möglich waren." Der Feuerwehrmann und sein Chef: Irgendwie war man damals im Frühjahr 2014 nicht zusammengekommen. Nur warum nicht? Hatte Winterkorn überhaupt verstanden, was ihm sein enger Mitarbeiter da erklären wollte? Hat er die Dramatik überhaupt erkannt? Oder wollte er nicht verstehen? Bisher war klar: Winterkorn hatte im Mai 2014 wohl gewusst, dass der Konzern in den USA Probleme wegen seiner hohen Abgaswerte hatte. Dass er dem Gottweis-Vermerk zufolge aber auf eine Software hingewiesen worden ist, mit der bei Abgas-Tests geschummelt werden kann, das ist neu. Jetzt scheint klar: Der damalige Konzernchef hätte guten Grund gehabt, nachzuhaken.

Auffallend ist, wie sehr Winterkorn trotzdem heute noch in den Chefetagen in Wolfsburg in Schutz genommen wird. Es sei für einen Vorstandsvorsitzenden "unmöglich, hier jedes Details zu kennen", heißt es im Konzern. So sei das auch mit den unzähligen Mails und Schriftsätzen, die sich täglich auf dem Schreibtisch eines Top-Managers stapelten. Könne man die wirklich alle lesen, habe man die Zeit dafür, fragen sich heutige Verantwortliche in Wolfsburg und geben eine Antwort, die Winterkorn entlastet: Nein, diese Zeit habe man nicht.

Man kann die Frage natürlich auch andersherum stellen: Gehört es nicht zu den grundsätzlichen Aufgaben eines des bestbezahlten Manager in Deutschland, all diese Dinge zu lesen oder zumindest lesen zu lassen? Vor allem dann, wenn sich der Feuerwehrmann mit deutlichen Worten bei ihm meldet?

© SZ vom 16.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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