25 Jahre WWW:Rotten.com - die ekligste Seite im Netz

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(Foto: Ash Edmonds/Unsplash)
  • Vor 30 Jahren gab das Kernforschungszentrum CERN die Technik für die Nutzung des World Wide Web für die Öffentlichkeit frei.
  • Eine der skandalträchtigsten Seiten des ersten WWW-Jahrzehnts: Rotten.com.
  • Wie die Seite entstand und welchen Einfluss sie auf die spätere Netzkultur hatte.

Von Johannes Kuhn, Austin

Das Böse war schon immer in der Welt, doch im Spätsommer 1997 entdeckte die Öffentlichkeit es auch im Internet. Prinzessin Diana war wenige Wochen zuvor bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als die Website rotten.com ein angebliches Foto des Unglücks veröffentlichte: Der blutende Körper einer blonden Frau, eingezwängt in ein Wrack, um sie herum Rettungskräfte.

Das Foto war gefälscht, doch die weltweite Berichterstattung der Medien machte Rotten.com und seine makaberen Inhalte schlagartig weltweit bekannt. In den Jahren danach wurde das selbsternannte "Archiv verstörender Illustrationen" zu einer Institution des frühen Webs, das sich damals noch vorwiegend über Linklisten und einprägsame Domain-Namen wie classmates.com oder suck.com organisierte.

Was die Macher als "rotten", also scheußlich, präsentierten: entstellte Mordopfer, Leichenbilder von Prominenten (von Stalin bis Tupac), Menschen mit körperlichen Missbildungen, Aufnahmen von ungewöhnlichen Genitalen oder verstörende sexuelle Aktivitäten.

"In einer anderen Zeit wäre Rotten.com eines dieser Kuriositäten-Museen gewesen, irgendwo im zweiten Stock eines Hauses in einer Stadt wie New York oder San Francisco", sagt Jason Scott, "eines, in das du gehst und Föten in Einmachgläsern und solche Dinge sehen kannst."

Bilder, die nicht ungesehen werden können

Der heute 47-Jährige war einer jener Handvoll Menschen, die damals an Rotten.com mitarbeiteten. "Es ging bei den Fotos nicht unbedingt nur um den Schock, sondern darum, dass sich das Bild ins Gedächtnis einbrennen sollte."

Dieser Nervenkitzel zog vor allem pubertierende Jugendliche an, die gerade mit 33 Kilobit pro Sekunde per Modem das Internet entdeckten. Zwischendurch rutschte Rotten in die Top 20 der meistbesuchten Seiten von Männern zwischen 16 und 25 Jahren, gar nicht weit weg von Giganten wie Ebay oder Yahoo. Kaum jemand von damals wird Rotten.com zum anstehenden 25. Jubiläum des WWW vermissen. Aber die Seite zu vergessen, ist unmöglich.

Scott möchte den Hauptverantwortlichen von damals nicht identifizieren, erzählt die Entstehungsgeschichte aber so: Der Rotten-Gründer gehörte zu einem Freundeskreis an der US-Westküste, der in der ersten Hälfte der Neunziger mit dem Kauf sprechender Domainnamen wie noun.com experimentierte und spekulierte. Viele der Namen verkauften sie gewinnbringend weiter, doch das einprägsame Rotten.com verwendete der Gründer für die Präsentation seiner Sammlung makabrer Bilder, die er gekauft oder ersteigert hatte. Später begannen Leser, selber Aufnahmen einzuschicken.

Das Magazin Daily Dot hat den Rotten-Gründer, der zuvor in der Forenwelt aktiv war und sich nur "Soylent" nannte, stichhaltig als Thomas E. Dell identifiziert. Der Software-Entwickler und ehemalige Apple-Mitarbeiter ist nicht nur über Rotten.com mit der Geschichte des Webs verbunden: Zum Zeitpunkt des Diana-Vorfalls arbeitete er gerade bei Netscape, dem damaligen Browser-Marktführer (Dell beantwortete mehrere Interview-Anfragen von SZ.de für dieses Stück nicht).

"Das Internet ist kein Babysitter"

Natürlich löste Rotten.com mit wachsender Bekanntheit heftige Gegenreaktionen aus. In den Neunzigern rückte zunächst in den USA, dann auch in anderen Ländern die Frage in den Mittelpunkt, wie mit dem Internet umzugehen sei. Mehrmals versuchten amerikanische Politiker im Kontext des Jugendschutzes, den Zugang zu Pornografie und anderen missliebigen Inhalten zu beschränken. Rotten.com galt als Paradebeispiel für das, was Kinder nicht sehen sollten. "Das Internet ist kein Babysitter", lautete die Antwort in einem Rotten-Manifest von 1997, "kein Kind sollte alleine im Internet sein dürfen".

In Deutschland war die Seite 2001 Gegenstand einer Netzsperren-Debatte, und die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Inhalte hatte die Seite bereits 1999 auf den Index gesetzt. Obwohl Rotten.com seit mehr als zehn Jahren keine Rolle mehr spielt und inzwischen wegen Serverproblemen nicht mehr funktioniert, bleibt sie für Nutzer mit aktiviertem Browser-Jugendfilter bis 2024 gesperrt.

Zu den seltsamen Blüten der Filter-Debatte gehörte, dass sich Rotten.com wie andere amerikanische Pornoseiten eine Nachrichtenrubrik und ein Online-Lexikon zulegte: Die Regierung George W. Bushs wollte hohe Geldstrafen für jugendgefährdende Netzinhalte durchsetzen, hatte aber Bildungs- und Nachrichtenseiten explizit ausgenommen. 2004 schließlich beerdigte der Oberste Gerichtshof das zugrundeliegende Gesetz unter Hinweis auf die Meinungsfreiheit.

Es seien über die Jahre viele wütende E-Mails, Anwaltsschreiben und Briefe eingegangen, sagt Scott. "Menschen behaupteten zum Beispiel, dass die Leiche ihrer Tochter auf einem der Fotos zu sehen sei, obwohl das Bild aus einem Lehrbuch von 1922 stammte. Sie wollten einfach nur, dass die Seite verschwindet."

Kulturell gilt Rotten.com heute als Scharnier. Einerseits folgte es vielen Traditionen: Das Interesse an Schock und morbider Grenzüberschreitung war nicht neu, seit jeher strömte das Publikum in Massen, um Hinrichtungen auf dem Marktplatz, Sklavenspiele im Kolosseum oder ungewöhnliche Menschenkörper im Zirkus zu begaffen. Der gesellschaftlichen Tabuisierung solcher Spektakel setzte die Kunst immer wieder Tabubrüche entgegen; so war in den Siebzigern der amerikanische Film federführend bei der Ästhetisierung der Gewalt.

Noch die Teenager der Achtziger reichten VHS-Kopien des Mondo-Films "Gesichter des Todes" herum, der echte und echt erscheinende Todesmomente von Menschen und Tieren zeigte. Doch während sich die schockierende Pseudo-Dokumentation noch eine zivilisationskritische Botschaft anheftete, und sei es nur als Feigenblatt, war Rotten.com nicht nur durch die sofortige globale Verfügbarkeit entgrenzt: Die zynische Präsentation der Aufnahmen lag näher an der Kultur, die später Webseiten wie die Schockkonsum-Massenproduzenten Ogrish, Goatse oder Bestgore hervorbrachte, aber auch digitale Nihilistenversammlungen wie 4chan prägte.

Derbe Scherze und Schock im Mainstream

Und wirklich funktionierte Rotten.com auch als derber Internet-Scherz á la 4Chan, naive Bekannte per Link auf ein Schock-Foto zu schicken. Diese damals aufkommende Trollkultur-Technik perfektionierte die Seite "Lemonparty", die männliche Senioren beim flotten Dreier zeigt. Lemonparty kann Zitronenparty, aber auch Zitronenpartei heißen, weshalb im US-Wahlkampf 2000 einige Witzbolde mit Plakaten für die Lemonparty als dritte Partei neben Demokraten und Republikanern warben. Interessierte Wähler erlebten beim Aufruf der URL dann eine ordentliche Überraschung.

Mehr als sichtbare Teile einer seltsamen Subkultur waren solche Seiten freilich nicht. "In den Neunzigern war es ein Wunder, dass das Internet überhaupt funktionierte. Und alle waren glücklich, dass es funktioniert hat", sagt Scott. "Und wenn du lange genug herumgewandert bist, bist du auf Rotten.com gestoßen und die Leute sagten: 'Yep, das ist es, was du im Internet findest.'" Im Jahr 2018 muss niemand mehr besonders weit wandern, um Schock-Aufnahmen, außergewöhnliche Pornografie, Grausamkeiten und Makaberes zu finden. Eine Seite wie Rotten.com wirkt im Kontext der Gegenwart altmodisch und beinahe dezent. Relevanz in der Internetkultur hat sie schon seit ungefähr 2005 nicht mehr.

Wann aus der Schock-Subkultur der Mainstream wurde, dürften einmal Internet-Historiker herauszufinden versuchen. Der Journalist und Digital-Archäologe Adrian Chen markierte einmal den 2007er Clip " 2 Girls 1 Cup", der hier nur mit "beschissener Porno" umschrieben sein soll, als Wendepunkt: Nicht nur das Ekel-Video selbst wurde zum Meme, sondern auch Videos über die Reaktionen - Kennzeichen des beginnenden Youtube- und Social-Media-Zeitalters.

Schneller, als wir weggucken können

Das Echtzeit-Netz schockt uns heute schneller, als wir weggucken können, ob es die Hinrichtungsvideos des "Islamischen Staats" oder die Augenzeugen-Aufnahmen von Anschlägen und Naturkatastrophen sind. Klickoptimierte Inhalte findet inzwischen jede Zielgruppe, vom Katzenbilder-Fan über den Spezialporno-Konsumenten bis zum Gewalt-Liebhaber.

Sind wir also inzwischen emotional abgestumpft? Zumindest sind wir nicht mehr so schnell zu schocken. Jason Scott: "Wenn du heute auf etwas wie Rotten stößt, würdest du kurz klicken, gucken und dann fragen: 'Okay, und was jetzt?' Du müsstest fünf solcher Schockseiten jeden Tag besuchen, um überhaupt noch etwas Dopamin herauszukitzeln."

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