Pflegedienste:Milliardenbetrug in der Pflege - aus vielen Gründen fatal

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Die bestmögliche Versorgung der Alten und Kranken kann nur dann sichergestellt werden, wenn mit den zur Verfügung stehenden Mitteln gut umgegangen wird. (Foto: imago/Westend61)

Der Betrugsskandal in der Pflege zerstört wichtiges Vertrauen in die Branche. Nun stellen sich unangenehme Fragen.

Kommentar von Kim Björn Becker

Der Begriff des Pflegenotstands stammt noch aus der Zeit der Bonner Republik, er beschreibt einen gravierenden Personalmangel in der Versorgung alter und kranker Menschen. Wenn heute vom Pflegenotstand die Rede ist, dann sind damit oft auch die Folgen dieses Missverhältnisses gemeint: Berichte über unhaltbare Zustände in einzelnen Heimen zum Beispiel, oder nachvollziehbare Klagen völlig überlasteter und ausgebrannter Pflegekräfte. Das alles hat dazu beigetragen, dass der Ruf der Branche sich in den vergangenen Jahren nicht gerade zum Besseren gewandelt hat. Seit dem vergangenen Wochenende steht die Pflege in Deutschland nun erneut am Pranger - vielleicht mehr als jemals zuvor in den vergangenen Jahren.

Dass ambulante Pflegedienste systematisch und in erheblichem Umfang Abrechnungsbetrug begangen haben sollen, ist aus zwei Gründen fatal. Zum einen zerstört die Affäre bis auf Weiteres jeden noch so gut gemeinten Versuch von Politik und Wirtschaft, das Vertrauen in die Pflege zu stärken und die Branche für Arbeitskräfte attraktiv zu machen. Seit Monaten setzt sich die Koalition zum Beispiel für eine Reform der Ausbildung ein, damit sich - so ihre umstrittene Rechnung - mehr junge Menschen für eine Tätigkeit in der Pflege entscheiden.

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Es gebe inzwischen Hinweise auf Strukturen organisierter Kriminalität. Im Visier der Ermittlungen sind dem BR und der "Welt am Sonntag" zufolge vor allem russische Pflegedienste.

Wer will noch Pfleger werden, wenn man dafür in eine Reihe mit Betrügern gestellt wird?

Nur: Wer wird den Beruf des Pflegers noch ergreifen wollen, wenn er oder sie dann fürchten muss, in eine Reihe mit Lügnern und Betrügern gestellt zu werden? Zum anderen, und das ist das eigentlich Perfide daran, schadet der vom Bundeskriminalamt vermutete Betrug letztlich vor allem den Hilfsbedürftigen. Die bestmögliche Versorgung der Alten und Kranken kann nur dann sichergestellt werden, wenn mit den zur Verfügung stehenden Mitteln gut umgegangen wird. Das gilt umso mehr, da die gesetzliche Pflegeversicherung seit ihrer Gründung in den Neunzigerjahren ohnehin nur einen Teil der Kosten übernimmt. Wenn Vertreter der häuslichen Pflegedienste teils systematisch mehr Leistungen abgerechnet haben, als sie erbrachten, fügen sie jenen einen Schaden zu, die ohnehin schon schwach sind. Das macht die moralische Schwere des Vergehens aus.

Es gibt also gute Gründe, sich angesichts der jüngsten Ermittlungsergebnisse zu empören. Und doch wirkt die emotionale Erregung, die am Wochenende einsetzte und die sich bis zur Wochenmitte ungebremst fortgesetzt hat, immer auch ein wenig unaufrichtig. Denn die offenkundigen Verfehlungen, über die nun so leidenschaftlich gesprochen wird, dürfen nicht wirklich überraschen. Bereits vor mehr als vier Jahren zum Beispiel äußerte man in einer Berliner Bezirksverwaltung den Verdacht, dass bei bis zu zwei Dritteln aller häuslichen Pflegedienste Unregelmäßigkeiten bestehen. Von russischen und osteuropäischen Banden war in der Hauptstadt da bereits die Rede, auch stand eine vermutete Schadenssumme von 100 Millionen Euro im Raum.

Es war also schon lange bekannt, dass es bei der ambulanten Versorgung von Pflegebedürftigen ein Problem gibt, und man kannte auch die Größenordnung dieses Problems. Wenn sich nun alle einig sind, dass die Kontrollen verschärft werden müssen, dann ist das zwar konsequent und löblich. Offen bleibt, warum der Ernst der Lage nicht bereits vor Jahren erkannt und entsprechend gehandelt wurde. Immerhin, dies muss man der Politik anrechnen, hat der Bundestag auf Vorschlag des Gesundheitsministeriums zum Jahresbeginn die gesetzliche Möglichkeit geschaffen, dass ambulante Hilfsdienste unangemeldet kontrolliert werden können. Parallel wird erprobt, jeden Pflegedienst im Rahmen der turnusmäßigen Kontrolle genauer zu prüfen und auch die Abrechnungen unter die Lupe zu nehmen. Noch in diesem Jahr soll der Modellversuch ausgeweitet werden.

Bis es so weit ist und striktere Kontrollen greifen, kommt es darauf an, das Ausmaß der Causa möglichst genau zu ermitteln. So ist derzeit noch nicht klar, ob der unterstellte Abrechnungsbetrug fast ausschließlich auf das Treiben einer osteuropäischen Mafia zurückzuführen ist oder ob diese umgekehrt nur einen kleinen Teil einer noch viel größeren kriminellen Struktur ausmacht. An diesem Punkt sind die Ermittler und Gerichte gefragt.

Der Pflegebeauftragte der Bundesregierung, Karl-Josef Laumann (CDU), warnte derweil zu Recht davor, dass nun "nicht die ganze Branche in Verruf" geraten dürfe. Denn auch das ist eine Folge der aktuellen Empörung: Auch jene Pfleger, die ihre Sache korrekt und mit Hingabe machen, geraten unter einen erhöhten Rechtfertigungsdruck. So wird der Begriff des Pflegenotstands um eine neue Ebene erweitert. Schon wieder.

© SZ vom 20.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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