Wellness:Schlamm drüber

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Die lebende Sonnenuhr und das klassische Lehmbad: Lange waren die deutschen Kurorte in der Krise, nun leben sie wieder richtig auf - als Refugien für ausgelaugte Performer. Ein Besuch im rheinland-pfälzischen Bad Sobernheim.

Von Titus Arnu

Gesundheitsvorsorge mit Glamourfaktor: Der Außenpool von Bollants Spa im Park in Bad Sobernheim in Rheinland-Pfalz. (Foto: BOLLANTS SPA IM PARK)

Jeder bekommt eine Abreibung verpasst. Dazu steigen wir in flache grüne Zinkwannen, die knöchelhoch mit kaltem Wasser gefüllt sind. Die Lufttemperatur an diesem grauen Oktobermorgen ist so erfrischend wie die Laune von Nicole Praß-Anton. Die hellblonde durchtrainierte Frau motiviert etwa zwanzig Frühaufsteher dazu, in das eiskalte "Sitzreibebad" zu steigen. "Strampeln, strampeln, strampeln! Reiben, reiben, reiben!", ruft sie fröhlich in die Runde. Und die Kurgäste strampeln eifrig mit den Beinen und schaufeln mit den Händen unerschrocken kaltes Wasser auf ihre Bäuche. Alle sind nackt, auch Physiotherapeutin Praß-Anton. Nach zwei Minuten in der Wanne sind alle hellwach.

Im Gänsemarsch trippelt die Truppe nun durch das Kurhotel, immer noch nackt und bibbernd, um zum Außenpool zu gelangen. Vom Becken aus schaut man auf herbstlich gefärbte Bäume, sieht Nebel aus der Nahe aufsteigen und hört die Bad Sobernheimer Kirchturmuhr acht Uhr schlagen. Nach dem Sitzreibebad geht es weiter mit Wassergymnastik. Emotionaler Höhepunkt des feuchtfröhlichen Gemeinschaftserlebnisses: eine Polonaise durch das dampfend warme Wasser mit Absingen des Volksliedes "Das Wandern ist des Müllers Lust". Wenig später stehen die Mitglieder des mittlerweile recht gut durchbluteten FKK-Chors neben dem Kneipp-Becken und klopfen sich mit den Händen gegenseitig den Rücken ab. "Fester! Fester!", ruft Nicole Praß-Anton.

Kur ist mit Arzt, Wellness ohne: Aber ist es wirklich so einfach?

Sitzreibebad und Wassergymnastik gehören zu den Säulen der "Felkekur", die in Bad Sobernheim (Rheinland-Pfalz) seit mehr als 100 Jahren praktiziert wird. Der Pastor und Naturheilkundler Emanuel Felke erfand Anfang des 20. Jahrhunderts eine Kur auf Basis der Elemente Licht, Luft, Wasser und Erde, die gegen fast alle Wehwehchen helfen soll. Im Mittelpunkt der Behandlungen steht der Lehm. Im Sommer lassen sich die Patienten in ein Erdloch einbuddeln und bis zum Kinn mit kühlem Schlamm bedecken, in den kühleren Jahreszeiten reiben sich die Kurgäste im Dampfbad mit warmem Lehm ein. Früher ging es recht zackig zu bei der Felke-Kur: Wenn der Meister um sechs Uhr früh in die Trillerpfeife blies, standen die Kurgäste parat und führten seinen Anweisungen gemäß ein "Lichtluftbad" aus. Heute nennt man das Ganze zwar "Medical Wellness", nackt im Park herumgezappelt wird aber trotzdem noch.

Früher standen im historischen Jugendstilpark an der Nahe "Lufthütten", in denen Kurgäste die Nächte bis zum Sitzreibebad im Morgengrauen durchzitterten. Felke empfahl neben dem Sitzreibebad und der Lehmschmiererei auch das "Erdschlafen": "Ein wetterharter Körper ist die sichere Folge dieser Prozeduren." Heute kann man luxuriöse "Heimat-Lodges" mit Wifi, Kamin und Genießer-Halbpension buchen. Anhand der Verwandlung von Felkes "Kurhaus Dhonau" in das Medical-Wellness-Resort "Bollants Spa im Park" lässt sich gut diagnostizieren, wie sich die Kurlandschaft in Deutschland verändert hat. Nachdem die Krankenkassen in den Achtzigerjahren große Teile der Kurleistungen komplett gestrichen hatten, ging es erst mal bergab für viele Kurorte. "Das war keine Reform, das war eine Demontage der Kur", sagt Axel Bolland, seit 1982 ärztlicher Leiter des Familienbetriebes. Seit 1935 gehörte die Colon-Hydro-Therapie (Darmspülung) zu den Hauptelementen im Kurhaus Dhonau. 1988 beschlossen die Krankenkassen, diese Therapie nicht mehr zu bezahlen, weil sie unwissenschaftlich sei. Das Haus musste wie viele andere komplett umstellen von Kurbetrieb auf Wellness. Den Unterschied erklärt Axel Bolland so: "Kur ist mit Arzt, Wellness ohne."

Viele Anbieter in diesem Segment locken mit Aktivitäten in der freien Natur. (Foto: BOLLANTS SPA IM PARK)

Der Kassenknick führte in ehemals blühenden Kurorten zu Arbeits- und Trostlosigkeit. Doch seit ein paar Jahren geht es wieder aufwärts. Die Übernachtungszahlen steigen in vielen Kurorten deutlich an, überall gedeihen neue Therapieformen, neue Zielgruppen werden mit neuen Attraktionen erschlossen. Seit vergangenem Sommer kümmert man sich im Kneipp-Kurort Bad Wörishofen um eine besonders problematische Gästegruppe: Männer, von denen viele zu wenig Energie darauf verwenden, gesund zu bleiben. Michael Blessing, Facharzt für Urologie, entwickelte einen "Garten der Männergesundheit", in dem zwölf Heilpflanzen in Hochbeeten wachsen, die für die Männergesundheit relevant sind, etwa Grüner Hafer, Goldrute, Granatapfel und Tausendgüldenkraut. Zentrales Element des Männergartens ist die "lebende Sonnenuhr". Bei dieser Installation fungiert der Mensch als Zeiger, der die Tageszeit durch seinen eigenen Schatten abbildet. Unter Kurschatten haben sich manche Männer wahrscheinlich etwas anderes vorgestellt.

Dennoch scheinen solche Gags zu funktionieren: Die Kur lebt wieder auf. In Deutschland gibt es mehr als 350 Heilbäder und Kurorte, der Deutsche Heilbäderverband nennt die Zahl von 500 000 Beschäftigten und einen jährlichen Umsatz von 25 Milliarden Euro. Rund 25 Prozent der Übernachtungen im Deutschlandtourismus werden in Kurorten und Heilbädern registriert. In vielen Kurbädern sind stylische Thermalanlagen entstanden, etwa im bayerischen Staatsbad Bad Steben, wo es sich im modernen Ambiente entspannen lässt: 750 Quadratmeter Wasserfläche und eine Saunalandschaft mit Klangduschen, Schiefer-Dampfgrotte und Blütenpool wirken irgendwie einladender als kalte Kneipp-Güsse im Morgengrauen. Die aktiven E-Bike-Senioren von heute fahren auf so etwas ab. "Better Aging" sei angesichts des demografischen Wandels ein riesiger Wachstumsmarkt, stellt der Deutsche Heilbäderverband fest.

Manager und Managerinnen wollen körperlich so aussehen wie Spitzensportler

"Better Aging" klingt positiver als "Altwerden", deshalb setzen die meisten Kurhäuser auf Wellness- und Beauty-Behandlungen, die den unaufhaltsamen Zerknitterungsprozess des Menschen zumindest etwas angenehmer gestalten sollen. Der Weg zum Badehaus von Bollants Spa in Bad Sobernheim führt durch eine Ausstellung mit dem Titel "The Art of Aging", die schöne Fotos mit sehr positiv wirkenden Hundertjährigen zeigt. Bei der Vinotherapie sorgt Traubenkernöl dafür, dass die Haut des Best-Agers wieder jugendlich weich und frisch wirkt. "Kurhaus Dhonau - das klingt so nach Alten und Kranken", sagt Kurarzt Axel Bolland. Deshalb wurde das Haus 1998 umbenannt in "Bollants Spa im Park". Dementsprechend hat sich auch das Klientel verändert: Beim Faszien-Pilates und beim Mantra-Singen mit Dingsbums-Yoga trifft man rüstige neunzigjährige Damen, leicht übergewichtige fünfzigjährige Männer und schwangere Dreißigjährige. Die Kuren sind auf Bürohocker mit Rückenschmerzen, Banker mit Burnout, Wochenend-Wellnessgäste, Allergiker, Schlafgestörte, Digital-Detoxer und Laktose-Intoleranzler zugeschnitten. Wer es sich leisten kann, gönnt sich private Gesundheits-Nachhilfe, wer über eine gesetzliche Krankenkasse in den Genuss von Vorsorgeleistungen kommen will, tut sich schwerer - das Wort "Kur" kommt in der Sozialgesetzgebung nicht mehr vor.

Die Kurbäder erleben auch einen Aufschwung, weil Gesundheit mittlerweile zum Portfolio von beruflich erfolgreichen Menschen gehört. Manager und Managerinnen wollen nicht nur im Beruf spitze sein, sie wollen auch noch körperlich aussehen wie Spitzensportler. Ein doppelter Leistungsanspruch, der nicht so leicht miteinander vereinbar ist. Denn beides kostet verflucht viel Zeit und Anstrengung. Von Kurzaufenthalten in Medical-Wellness-Kliniken erhoffen sich viele Gäste einen Turbo-Boost fürs Alltagsleben, aber das funktioniert natürlich nicht so ruckzuck.

Ganz wichtig für die Vermarktung: Ein Kurort darf nicht zu sehr nach Kurort aussehen, sondern braucht ein zeitgemäßes Design. (Foto: BOLLANTS SPA IM PARK)

"Früher kamen unsere Gäste für vier bis sechs Wochen, als Verlängerung einer Reha oder zum Regenieren", sagt Janine Bolland, Geschäftsführerin des Kurhotels, "heute liegt der Schnitt bei vier Tagen." Für den Besuch von Kurkonzerten, Läden und Cafés im Ort, für Ausflüge in die Umgebung ist da kaum noch Zeit, das Verwöhn-Arrangement muss schließlich voll ausgekostet werden. Die Kurorte profitieren deshalb nicht so stark von der Renaissance der Kur, wie sie gerne würden.

Einige Gäste sehen aus, als hätten sie drei Wochen an der Costa Brava gelegen

"Die Leute wollen in kürzester Zeit das Maximale herausholen", sagt Axel Bolland, der versucht, den Spagat zwischen Wellness und Kurmedizin möglichst elegant hinzukriegen, ohne seine Ideale zu verraten. Er redet niemandem das üppige Frühstück nach dem Sitzreibebad aus, aber er weist seine Patienten freundlich darauf hin, dass ein Süppchen, glutenfreies Brot und Kräutertee am Abend bekömmlicher seien als ein Vier-Gänge-Menü mit Weinbegleitung. Pastor Felke, Urvater der Kur im Bollants, sei im Grunde der gleichen Ansicht gewesen, er habe die Ernährung als wichtigste Medizin angesehen, sagt Chefarzt Axel Bolland. "Heute würde man sagen: Wenn es einem gesundheitlich schlecht geht, muss man den Lifestyle ändern." Schlamm hilft dabei immer.

Also ab ins Lehmbad! Der rötlich-braune Schlamm ist fein gesiebt und feuchtwarm und lässt sich gut auf dem Körper verschmieren. Zusammen mit anderen schlammigen Gestalten sitzt man in einem Dampfbad, schmiert und reibt, bis die Haut so dunkel ist, als hätte man drei Wochen an der Costa Brava in der Sonne gebrutzelt. Der Lehm kommt aus einer 200 Meter vom Hotel entfernten Grube, ist basisch und soll gegen Hautkrankheiten helfen, den Körper entgiften und "entschlacken" - wobei der Lehmpastor Felke nicht näher erläutert hat, wie genau der Schlamm diese Schlacke aus der Haut zieht. Egal, solange man sich das Zeug nicht in die Augen reibt, tut es irgendwie gut. Ein Modeausdruck passt hier wie die Faust aufs Matschauge: Man fühlt sich total geerdet.

© SZ vom 26.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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