Pop-up-Kunst:Das Papier schlägt zurück

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Geister hinter Vorhängen, Fledermäuse und Außerirdische, die sich dreidimensional vom Papier erheben: Jan Pieńkowskis revolutionäres Pop-up-Buch "Haunted House" feiert seinen 40. Geburtstag.

Von Martin Zips

Eine Maus sucht eine Unterkunft für die Nacht, eine andere zeigt ihr das Haus. Erst Eingangshalle, dann Küche, Wohnzimmer, Badezimmer, Schlafzimmer und Dachboden.

Die Rede ist von einem Kinderbuch, natürlich. Aber von einem besonderen, eher angsteinflößenden. Schreckliche Wesen sind auf jeder Seite zu sehen, beim Umblättern erheben sie sich dreidimensional vom Papier. Geister, Gorillas, Skelette, Außerirdische, Krokodile, Fledermäuse.

Sie bewegen sich schauderhaft, mal durch Ziehen, mal durch Drehen. "Haunted House", so heißt das Werk. Es feiert in diesen Tagen seinen 40. Geburtstag. Auf Deutsch ist es nur noch antiquarisch erhältlich, unter dem Titel "Pension zum ewigen Frieden". Unbestritten ist: "Haunted House" ist ein Meilenstein der Pop-up-Kunst. Es verkaufte sich millionenfach in mehr als 30 Ländern.

Aufklappbücher haben Tradition. Bereits vor 750 Jahren gab es erste kleine Versuche, Bildergeschichten und Papierfaltkunst miteinander zu verbinden. Perfektioniert wurde das Handwerk im 19. Jahrhundert durch einen weitgehend in Vergessenheit geratenen Münchner. Nach Lothar Meggendorfer (1847 - 1925) sind heute nur noch in den USA oder den Niederlanden Preise für besonders herausragende Pop-up-Kunst benannt.

Auch der Autor von "Haunted House", Jan Pieńkowski, ließ sich von Meggendorfer inspirieren. Für sein Lebenswerk hat der an Alzheimer erkrankte 83 Jahre alte Londoner erst vor wenigen Wochen den Preis des angesehenen britischen "Book Trust" erhalten.

Mit Preisen überhäuft: Jan Pieńkowski. (Foto: David Bebber)

Die Lust am Erzählen wurde beim 1936 in Südpolen geborenen Pieńkowski durch seine Mutter geweckt. Sie las ihm vor, so erzählte er einmal dem Guardian, wenn er sich nach dem Mittagessen im Garten in der Hängematte ausruhte. Später, als die Familie vor den Angriffen der Deutschen und der Sowjets nach Warschau fliehen musste, sei es Pieńkowskis Nachbarin gewesen, die ihm Geschichten von der teuflischen, slawischen Hexe Baba Jaga erzählte. Meist nur, um an einer besonders spannenden Stelle zu stoppen, bis Jan die ihm so verhasste warme Milch endlich getrunken hatte. Zum Schutz vor Tuberkulose, wie man damals glaubte.

Seine Freude am Material Papier dürfte von den Papiervorhängen an den Fenstern der Nachbarin stammen. Solche Vorhänge waren damals die Gardinen der armen Leute. Und ja, da gab es auch diesen polnischen Soldaten, der während der deutschen Angriffe den jungen Jan im Luftschutzbunker mit selbstgebastelten Papierfiguren von den Schreien und Detonationen ablenkte. Aus Warschau floh Pieńkowski mit seinen Eltern über Österreich, Deutschland und Italien nach England, studierte später in Cambridge Kulturwissenschaften und Englisch. Seine Liebe aber galt der Malerei.

Star des Sujets

Dank "Haunted House", dem ebenso genialen "Robot" und etwa 20 anderer Pop-up-Bücher gilt Pieńkowski, der seit Langem unter einer bipolaren Störung leidet, bis heute als Star dieses Sujets. Auch seine Hexe "Meg" kennt in England seit den frühen Siebzigerjahren fast jedes Kind. Insgesamt hat er mehr als 160 Bücher illustriert und Poster, Postkarten und Bühnenbilder gestaltet.

Obwohl Aufklappbücher für Kinder auch heute noch vor allem in Südamerika und China hergestellt werden, sind moderne Werke mit Pieńkowskis Papierkunst nicht vergleichbar. "Haunted House" ist ein, ursprünglich vom US-amerikanischen "Pop-up-Papst" Waldo Hunt (1920 - 2009) verlegtes, aus Hunderten versteckten Papierteilen zusammengehaltenes Meisterwerk der Ingenieurskunst des Dänen Tor Lokvig. Hunt beschäftigte bis in die Achtzigerjahre gut ein Dutzend solcher, meist in die USA eingewanderter europäischer Papieringenieure, die die komplizierten Entwürfe von Künstlern wie Pieńkowski umzusetzen hatten. Noch heute wird die ausgeklügelte Aufklappkunst in Filmen wie "Der kleine Nick" (2009) oder "Paddington 2" (2017) gefeiert.

Geradezu unglaublich wirkt es, wenn ein Muskelmann in Pieńkowskis bald ebenfalls 40 Jahre alten Buch "Robot" nur durch den leichten Zug an einer Papierlasche plötzlich schwere Gewichte hebt und dabei auf papiermechanisch einzigartige Weise seine Hose verliert.

Oder wenn ein Roboter in einer Papierrakete aus dem Buch schier abzuheben scheint.

Heutige Aufklappbücher kommen meist entweder sehr wissenschaftlich und teuer daher (wegen ihrer großen Verletzbarkeit sind sie fast nur noch im Internet erhältlich) - oder sie sind billig und schlecht produziert. Nur wenige stechen heraus: Das "Game of Thrones Pop-up-Book" vielleicht, oder das "Harry Potter"-Aufklapp-Buch.

Der heute im Londoner Stadtteil Barnes lebende Jan Pieńkowski jedenfalls machte nie ein Geheimnis daraus, dass er - der in Nachkriegsengland nie eine Kunsthochschule besuchen durfte, obwohl dies sein größter Wunsch gewesen wäre - mit seinen gruseligen Pop-up-Büchern auch Persönliches verarbeitete. Die Schrecken, die Schreie, den frühen Tod der kleinen Schwester. Aber auch die Sehnsucht nach Märchen und Frieden in seiner Kindheit.

Der Umgang der Gesellschaft mit dem Umstand, dass er sich bereits mit 27 Jahren in einen Mann verliebte, mit dem er auch heute noch, 56 Jahre später, zusammenlebt, belastete Pieńkowski lange. Vor allem sein Vater habe sich als polnischer Katholik damals sehr schwer damit getan, erzählte der Kinderbuchautor im Jahr 2009 in einer BBC-Radiosendung. Dennoch blieben Jan und David immer zusammen und ließen im Jahr 2005 ihre Partnerschaft staatlich anerkennen - als eines der ersten homosexuellen Paare in England, gleich am ersten Tag, an dem das möglich war.

Die Schwermut, so Pieńkowski, sei aber immer in seinem Leben geblieben. "Zumindest aus künstlerischer Sicht ist das ein großes Glück", so fand er in einem seiner letzten Interviews vor seiner schweren Erkrankung. Seine Bücher, das ist sicher, haben Generationen von Kindern glücklich gemacht.

© SZ vom 28.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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