Mit 15, das war vor vier Jahren, flog Flynn McGarry allein nach Paris. Er sprach kein Wort Französisch. Wobei, doch, er sprach ein Wort. Er konnte sagen: Oui. Aber er würde schon irgendwie durchkommen, sagte er sich, und außerdem wollte er ja nicht reden oder sich nach Sehenswürdigkeiten erkundigen, er wollte in erster Linie essen. Er war gekommen, um das Mittagsmenü im Arpège zu bestellen, dem berühmten Restaurant von Alain Passard, das seit 1996 drei Michelin-Sterne trägt. McGarry erzählt von dieser Reise wie von einer Pilgerfahrt.
Vor allen Dingen erzählt er von dieser Reise in seinem eigenen Restaurant, dem "Gem" in New York, wo er von Dienstag bis Samstag exakt 36 Gästen am Abend in zwei Schichten ein Degustationsmenü serviert, das zweierlei ist: ein wirklich gutes Menü, vor allem aber ein Versprechen. Wer hier mal zwölf, mal 15 Gänge isst, je nachdem, wonach McGarry gerade der Sinn steht, der kann sich vorstellen, dass dieser 19-Jährige eines nicht allzu fernen Tages zu den großen Köchen der Welt gehören könnte.
Spitzengastronomie:Hamburger und Cola sind lukrativer
Das Sterne-Restaurant "La Vie" in Osnabrück musste schließen. Nun wird hitzig debattiert, ob und wie sich Spitzengastronomie rentabel betreiben lässt.
Zuletzt servierte McGarry zum Beispiel "Gegrillte Zuckererbsen mit frischem Tofu und geräucherten Forellen-Rogen in gekühlter Pilz-Suppe", oder "Gegrillte Gurke, mit Ahornsirup glasiert, mit Eigelb und Knoblauchsenf". Oder: "Eintopf aus Zucchini, Muscheln, Knoblauchschäften und mit Muscheln und karamellisierten Tomaten gefüllten Kürbisblüten". Im Ernst.
Damals, in Paris, saß McGarry also im Arpège, und weil Passard, der Chef, an diesem Tag beschlossen hatte, dass die Tomaten gerade so wunderbar seien, gab es zum Lunch acht Gänge mit Tomaten. Er entscheidet immer erst morgens anhand der Zutaten, was er zum Mittag kocht. Achtmal Tomaten, das könnte sehr langweilig werden. "Es waren vielleicht die besten acht Gänge, die ich je in meinem Leben gegessen habe", sagt McGarry heute. Nach dem Lunch kam Passard aus der Küche, um ein wenig mit ihm zu plaudern, und er tat das auf Französisch. 20 Minuten lang. An den Stellen, die ihm passend erschienen, sagte McGarry: "Oui."
Dass Passard wusste, wer dieser 15-Jährige war, der eigens nach Paris reiste, um in seinem Restaurant zu essen, lag daran, dass McGarry zu dieser Zeit in einschlägigen Zirkeln bereits als eine Art Wunderkind des Kochens bekannt wurde. In einem Bericht des Magazins der New York Times hatte der Teenager verkündet, dass er beabsichtige, mit 19 sein erstes Restaurant in New York zu eröffnen. Vier Tage nach seinem 19. Geburtstag im vergangenen November unterschrieb er den Vertrag für das Gem, gelegen in der Lower East Side von Manhattan. Ehrlich gesagt: Seine 23 Jahre alte Schwester Paris McGarry unterschrieb den Vertrag, weil man in den USA erst mit 21 eine Lizenz zum Alkoholausschank erhält. Etwa 15 Investoren unterstützen McGarry dabei, teils, weil sie Fans seiner Küche sind, teils, weil sie auf langfristige Rendite hoffen.
Seit Februar versucht McGarry nun, sich auf dem notorisch umkämpften New Yorker Markt zu behaupten. Es gibt rund 25 000 Restaurants in der Stadt, und warum sollte man in das eines 19 Jahre alten Kochs gehen, in dem man nicht einmal selbst aussuchen kann, was man isst? Zu einem Teenager, der nur seiner älteren Schwester wegen überhaupt Alkohol ausschenken darf und für ein Menü mit Weinbegleitung 255 Dollar pro Person verlangt, zuzüglich - das ist in New York so üblich - knapp neun Prozent Steuern.
Ein Grund, das Gem zu wählen, könnte McGarrys ungewöhnliche Geschichte sein. Er wurde in Los Angeles geboren, als Sohn von Meg, einer Filmemacherin, und Will, einem Fotografen. Als er vier war, zog die Familie in einen hippen Wohnwagenpark am Strand, der von Surfern und Künstlern bevölkert wurde. So beginnen auch die Lebensgeschichten mancher Hollywood-Stars. McGarry wollte damals Rockmusiker werden. Oder Maler. Mit den roten Haaren, die seinen Kopf wie eine Skulptur umstehen, sieht er auch heute noch aus wie ein, wenn auch sanfter, Rockstar-Maler.
Französische Croque Monsieurs:Überbackene Schinken-Käsebrote
Diese französischen Sandwiches, an denen seitlich der Käse hinunterläuft, schmecken der ganzen Familie.
Er konnte das besser als alles andere, und er wusste es sofort
Als er zehn war, zog die Familie zurück in die Stadt, die Eltern ließen sich scheiden. Da Meg, nun alleinerziehende Mutter, aus Zeitnot häufig Fertiggerichte aus dem Supermarkt kaufte, übernahm Flynn die Zubereitung des Abendessens, was für ihn einerseits eine Flucht war vor den Zumutungen, die eine Scheidung für einen Zehnjährigen bedeuten, und andererseits eine Erweckung. Im Kochen hatte McGarry etwas gefunden, in dem er auf ganz selbstverständliche Weise gut war. Er konnte das besser als alles andere, und er wusste es sofort.
Mit elf kochte er Rezepte aus "The French Laundry Cookbook", benannt nach dem berühmten Restaurant von Thomas Keller im Napa Valley. Definitiv Rezepte für Fortgeschrittene. Mit seinem Vater baute er eine Küche in sein Kinderzimmer. Als Zwölfjähriger kochte er in der heimischen Wohnung für Gäste, die dafür zahlten: 50 Dollar für ein mehrgängiges Menü. Erst aßen Freunde der Eltern bei Flynn. Bald sprach sich herum, dass hier ein Wunderkind am Werk war, und Fremde reisten an, um sich vom Talent dieses Kindes zu überzeugen.
Das klingt unvorstellbar, aber wer heute mit dem 19 Jahre alten Flynn McGarry spricht, der sitzt einem Mann gegenüber, der auf unwirkliche Weise erfahren wirkt, entschlossen, manchmal fast weise.
Nachdem er das Kochen entdeckt hatte, erzählt er, wusste er in jedem Moment seines Lebens, was als Nächstes zu tun ist. Zum Beispiel war ihm klar, dass er nicht in der Schule bleiben würde. Die Mitschüler ärgerten ihn, weil er offenkundig anders war. Also bestand er darauf, zu Hause unterrichtet zu werden. Die Familie hat sofort zugestimmt. Alle nannten ihn "Chef". Das heißt auf Englisch zum einen einfach Koch. Aber es heißt eben auch Küchenchef, und da Flynn McGarrys Welt im Wesentlichen eine Küche ist, bedeutete diese Anrede, dass er in jeder Hinsicht der Chef war.
Als 16-Jähriger eröffnete er für kurze Zeit sein erstes Pop-Up-Restaurant in New York. Die Zeitschrift Vogue nannte ihn - eine zweifelhafte Ehre - den "Justin Bieber des Kochens". McGarry hat René Redzepi bei der Arbeit zugesehen, dem Koch des weltberühmten "Noma" in Kopenhagen. Er hat von Daniel Humm gelernt, der in New York im ebenso berühmten Restaurant "Eleven Madison Park" kocht. Er hat Tag für Tag darauf hingearbeitet, eines Tages genau da zu sein, wo er jetzt ist: in New York, als Chef seines eigenen Restaurants. Seither wird er gefragt: Und jetzt?
Nachtleben:Was willst Du trinken?
Früher setzte man sich auf einen Gin Tonic in eine Bar. Heute scheint es lauter ungeschriebenen Regeln zu geben, wie man was zu trinken hat. Über gute Drinks und unsinnige Etiquette.
Darüber mag Flynn MacGarry vor allem deshalb nicht nachdenken, weil erstmals alles im Gleichgewicht zu sein scheint. "Das ist jetzt mein Zuhause geworden", sagte er. Mit dem Gem hat sich McGarry einen Platz erschaffen, an dem er nicht nur kocht, sondern auch lebt, und in dem er das Zentrum von allem ist. Er ist erst 19 Jahre alt, aber er wirkt wie ein Mann, der angekommen ist.
Neulich hatten sie ein Wasserleck. McGarry flickte es selbst
Er hat ein Dutzend Angestellte, die genau tun, was er sagt. McGarry entscheidet alles. Welche Blumen in den Vasen stehen. Welche Stühle wieder raus müssen, weil sie doch zu unbequem sind. Welche T-Shirts die Hilfsköche tragen. Neulich hatten sie eine Stunde vor dem Abendessen ein Wasserleck in der Decke, genau über der offenen Küche. Was tun? McGarry rannte selbst zum nächsten Hardware-Store (das ewig bröckelnde New York ist voll davon), kaufte Silikon-Tuben und Klebeband und flickte das Leck provisorisch. Den Abend über hat es gehalten.
Das Gem besteht aus zwei Räumen: einem Café und dem Speisezimmer mit der offenen Küche. Tagsüber kann man ins Café hineinspazieren, fürs Restaurant braucht es eine Reservierung. McGarry hat ein Apartment um die Ecke, in das er aber nur zum Schlafen geht. Er ist mehr oder weniger immer hier. Wer ihn sehen will, kommt ins Café. Seine Freunde kommen ins Café. Seine Familie kommt ins Café. Er verbringt 16 Stunden pro Tag im Gem. Ansonsten kauft er ein oder schläft.
Das Wort "Gem" bedeutet im Deutschen Juwel oder Kleinod. Ein guter Name für ein Lokal. Vor allen Dingen hat McGarry ihn gewählt, um seiner Familie dafür zu danken, dass er werden konnte, wer und wie er ist, denn Gem ist auch und vor allem der Name seiner Mutter Meg. Rückwärts gelesen.