Mode:Jenseits der Norm

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Tess Holliday

Tess Hollidays Dellen wurden für die Setcard wegretuschiert, genau wie die Tattoos.

(Foto: Milk Management)

Dicke, Amputierte, Tätowierte: Immer mehr spezielle Typen werden von Designern für Schauen gecastet. Hat der Modezirkus den Menschen für sich entdeckt, schlägt sein Herz gar für die Inklusion? Oder ist es nur ein weiterer Versuch, sich abzuheben?

Von Violetta Simon

Tess Holliday ist - man kann es so sagen - fett. Sie hat Wülste und Dellen an den Beinen und ist außerdem an allen möglichen Stellen tätowiert. Damit vereint die Kalifornierin einiges, was im Modebusiness bis vor kurzem noch unter die Kategorie "schwer vermittelbar" fiel. Trotzdem feiert die italienische Vogue sie 2013 als eines der heißesten sechs Plus-Size-Models. Die 29-Jährige dürfte eines der kleinsten und dicksten Models sein, das je bei einer Agentur unter Vertrag stand. Bei einer Größe von 1,65 Metern und einem Gewicht von fast 120 Kilogramm bewegen sich ihre Proportionen sogar jenseits der üblichen "Plus-Size": Holliday trägt Konfektionsgröße 50.

Entdeckt wurde Tess im Internet, sie hatte sich für die Diät-Show "Heavy" beworben, wurde als das Gesicht der Sendung gecastet. Abgenommen hat die ehemalige Rezeptionistin damals nicht, aber immerhin einige Plus-Size-Agenturen luden sie zu einem Shooting ein. Sie veröffentlichte die Fotos auf ihrem Blog und diversen Social-Media-Plattformen. Schließlich wurde die Londoner Modelagentur Milk auf sie aufmerksam und nahm sie unter Vertrag. Die Dellen an den Beinen wurden für die Sedcard wegretuschiert, genau wie die großflächigen Tattoos. Es folgte ein Shooting mit dem rennomierten Fotografen David LaChapelle und ein Vertrag mit dem Plus-Size-Label Torrid.

Keine Frage: Tess Holliday ist schön, auf eine spezielle Art. Die 29-Jährige steht für eine neue Art von Schönheit. Sie hat einen gut aussehenden Verlobten und einen neunjährigen Sohn. Und die Menschen bewundern sie - nicht nur wegen ihres Erfolgs, sondern für das, wofür sie steht. Holliday unterwirft sich nicht ästhetischen Normen, unter dem Hashtag #effyourbeautystandards, was so viel heißt wie "Scheiß' auf Deine Schönheitsideale", ruft sie dazu auf, es ihr gleichzutun. Auch wenn Kritiker ihr vorwerfen, sie würde Esssucht als "Body Pride" vermarkten und gesundheitliche Probleme unter den Tisch kehren: Tess hat eine Menge Fans. 525.000 folgen ihr auf Instagram, 775.000 auf Facebook. Dort verkündete sie kürzlich: "Ich schätze, ich bin total im Trend, mein fetter Arsch ist überall im Netz zu finden." Im Juni wird er in New York auf dem Laufsteg zu sehen sein - auf der "Full Figured Fashion Week".

Jenseits der Norm

Tess Holliday ist nicht das einzige Model, das deutlich von den üblichen Selektionskriterien - reines Hautbild, gut proportionierte Figur, mager- abweicht. Auf den Laufstegen der Designer scheint derzeit der besondere Mensch im Vordergrund zu stehen. Typen statt Kleiderständer sind gefragt. Ihr Auftritt sorgt für Aufsehen, und das ist gewollt. Um sich unter hunderten von Schauen aus der Masse abzuheben.

Im Februar schickte das italienische Label FTL Moda das erste beinamputierte Model mit Prothese über einen Laufsteg der New York Fashion Week. Neben dem Briten Jack Eyers liefen Models auf Krücken, andere präsentierten die Kollektion im Rollstuhl. Die Designerin Carrie Hammer engagierte Jamie Brewer, bekannt aus der amerikanischen Serie American "Horror Story". Die 30-Jährige ist Schauspielerin. Und das erste Model mit Downsyndrom, das bei der New York Fashion Week auftrat.

Ist die Mode also doch offen für jene, die abweichen von der Norm, die sozial oder von Natur aus benachteiligt sind? Geht es den Designern um Inklusion? Oder gerät der Modezirkus zur heuchlerischen Betroffenheits-Veranstaltung - eine zynische Show, die den Umsatz ankurbeln soll?

"Ich denke nicht, dass es dem Designer primär um die individuelle Behinderung des Menschen geht", sagt Claudia Midolo, Inhaberin der Hamburger Agentur Modelwerk. "Es ist ein Symbol, um sich abzuheben - und das ist genau so gemeint: Wir wollen weg von der Norm, uns nicht in Schubladen drängen lassen, und machen etwas anderes." Es hat schon immer Designer gegeben, die Besonderes zeigen wollten, sagt die Modelagentin. Auch wenn diese extremen Typen nach wie vor eine Ausnahme seien.

Und doch gibt es eine Vielzahl solcher "extremen Typen", mit der die Fashionlabels versuchen, sich von der Masse abzuheben - wie folgende Beispiele zeigen.

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