Kräftskiva:Der Signalkrebs bringt die Pest - den Schweden ist's egal

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Harte Schale: Die Krebse bei der "Kräftskiva" werden alle von Hand bei Tisch geknackt. (Foto: Kathleen Hildebrand)

Es gibt einige Gründe, die einem das Krebsfest vermiesen könnten. Aber es gehört zum Sommer wie Dill zu den Schalentieren. Zu Besuch beim Kräftskiva.

Reportage von Kathleen Hildebrand

So nah an einem Austritt aus der EU wie in diesem Sommer war Schweden wohl noch nie. Aus Brüssel war eine Liste von 37 Tierarten in alle Mitgliedsstaaten verschickt worden, die es auszurotten gelte, weil sie heimische Arten verdrängen. Auf der Liste stand: der Signalkrebs. Ein Journalist nannte das, was Brüssel da verlangte, "den größten Angriff gegen Schweden seit der Schlacht bei Lützen". Der Dreißigjährige Krieg? Gut, der Artikel war nicht ganz ernst gemeint. Aber die Sorge, die da den nordischen Sommer verdunkelte, war gewaltig. Denn ohne den Signalkrebs gäbe es keine Kräftskiva.

Alles was in Schweden im Sommer passiert, ist ungeheuer aufgeladen, weil die helle, warme Zeit hier so flüchtig ist. Aber die Krönung der sommerlichen To-do-Liste ist das Krebsessen. Man muss sich das so vorstellen, als fielen Spargelsaison, Sommerferien, Kindergeburtstag und Weihnachten zusammen - in sechs Wochen Spätsommer. Anfang August geht es los, dann sind die Krebse groß genug. Die Kräftskiva, ausgesprochen etwa "Kräftschiewa", Krebsbuffet, bedeutet im kulturellen Kalender des Landes ähnlich viel wie das Mittsommerfest. Die Menschen setzen sich alberne Papierhütchen auf, manche ziehen rote Kleidung an - und sehr viele geben sehr viel Geld aus.

Die einheimischen Tiere reichen längst nicht aus

Ein Kilo schwedische Krebse kostet mindestens 50 Euro. Und weil in den roten Schalen nicht sonderlich viel Fleisch steckt, braucht man schon mehr, um Familie und Freunde zu verköstigen. Die einheimischen Tiere reichen längst nicht aus, um den schwedischen Hunger zu stillen. Achtzig Prozent der Krebse, die gegessen werden, kommen aus dem Ausland, das Land ist der größte Krebsimporteur der Welt. Die große Liebe zu dieser Tradition sieht man schon, wenn man einen schwedischen Reisepass aufschlägt: die inneren Umschlagsseiten sind mit einem Gemälde des Schwedenidyllenmalers Carl Larsson bedruckt, das "Kräftfångst" heißt: eine Krebsfangszene zwischen schlanken Birken, im Vordergrund steht ein Esstisch voll tiefrot leuchtender Krebse.

Gleich fangen sie an zu singen. Zu einer echten "Kräftskiva" wie hier in Östhamma gehören viele Krebse, guter Schnaps - und Trinklieder. (Foto: Kathleen Hildebrand)

"Das Krebsessen ist für Schweden so etwas wie der Abschied vom Sommer", sagt Peter Johansson. Man sieht dem 45-jährigen Koch an, was für einen großartigen Sommer Schweden dieses Jahr erlebt hat: blau-weiß gestreifter Polo-Langarmpulli, für einen blonden Menschen unerhörte Gesichtsbräune, entspannte Züge. In seinem Fischrestaurant B.A.R., gelegen in einer ruhigen Stockholmer Seitenstraße hinter dem berühmten Grand Hotel, hat er gerade fünfzehn Kilo Krebse gekocht. "Ich liebe Krebse, im Moment esse ich sie dreimal die Woche", sagt er und lächelt begeistert.

Die frischgekochten Tiere sind noch warm, leuchten tiefrot aus zehn weißen Plastikeimern heraus und duften kräftig-süßlich nach Schalentier und Dill. "Jeder hat sein eigenes Rezept für den perfekten Sud", sagt Johansson, "aber ich mag es einfach: Salz, Zucker, Bier und richtig viele Dillblüten, die sind das Wichtigste." Wenn dieser Sud kocht, werden die Krebse lebendig hineingeworfen.

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Reportage von Kathleen Hildebrand, Damianitza

"Sie sterben sofort"

Die ethische Diskussion darüber hält sich in Schweden in Grenzen. Peter Johansson sagt nur: "Sie sterben sofort." Und man sieht ihnen ihr Leid ja auch nicht an. Man könnte fast sagen: Leuchtend rot und tot erscheinen sie fröhlicher, als braun und lebendig.

"So ist das eben", sagt auch Hans Raab und deckt dabei den Tisch für die Kräftskiva, die am Abend auf der Terrasse seines Holzhauses in Östhammar beginnen soll, 120 Kilometer nördlich von Stockholm. Seine elfjährige Nichte Kristina hilft ihm, sie legt Krebsmesser zum Scherenknacken aus, Servietten mit Krebsmotiv, Papierplatzdeckchen mit Krebsen drauf. Über der langen Tafel hängen an einer Schnur drei bunte Papierlaternen. "Einen Sommer ohne Kräftskiva", sagt Raab, "kann ich mir nicht vorstellen." Hans Raab, aufgewachsen als Angehöriger der schwedischen Minderheit in Finnland, ist erst vor zwei Jahren nach Schweden gezogen. Davor hat er in Tübingen 32 Jahre lang als Lektor an der Universität Studenten Schwedisch beigebracht. Das Krebsessen hat er in keinem davon ausgelassen.

Als man sie fangen durfte, war das ein Volksfest

Dieses Jahr richtet er selbst eine Kräft-skiva aus. Ein Freund hat zwei Kilo schwedische Edelkrebse mitgebracht. Teuer waren die, fast 70 Euro, "aber das ist Topqualität, die Krebse sind alle sehr groß", sagt Hans Raab, seine Stimme klingt ehrfürchtig. Die übrigen drei Kilo, die später hübsch aufgehäuft und mit Dillblüten dekoriert auf den Tisch kommen, stammen aus China, Spanien, der Türkei. Man könnte sie jederzeit kaufen, nicht nur im August. Aber so ist es Tradition. "Eigentlich hat das nur bürokratische Gründe", erklärt Hans Raab. Bis 1994 war das Fischen von Krebsen in Schweden vor dem ersten Mittwoch im August verboten, um den Bestand zu schützen.

Als man sie dann endlich fangen durfte, war das ein Volksfest. Heute darf man das eigentlich jederzeit, vorausgesetzt man ist gemeldeter Bürger einer Gemeinde mit krebsreichem Gewässer und hat eine der begehrten Fangerlaubnisse gekauft. In den großen schwedischen Seen Vänern und Vättern gibt es die größten Fanggründe, von dort bezieht auch die Königsfamilie ihre Krebse. Sie werden in Reusen gefangen, Käfigen mit toten Fischen als Köder. Der Krebs krabbelt hinein und kommt durch die sich hinter ihm schließenden Gitter nicht mehr hinaus.

Aber was hat es nun mit dem Signalkrebs auf sich, den die EU nicht länger dulden will? Die braunen Krebse mit den weißen Flecken an den Scheren sind von den einheimischen schwedischen Edelkrebsen kaum zu unterscheiden. Vor 150 Jahren wurden sie aus Nordamerika nach Europa eingeschleppt. Ihr tödliches Mitbringsel: die Krebspest. Gegen die Pilzkrankheit haben die Signalkrebse selbst gute Widerstandskräfte. Aber sie infizierten die einheimischen Krebse und rotteten sie so beinahe aus.

Der schwedische Edelkrebs ist heute stark gefährdet. In der Markthalle im Stockholmer Nobelviertel Östermalm kostet ein Kilo gut 90 Euro, Signalkrebse gibt es für 60. Die Sache ist nur: Der Signalkrebs ist heute die Krebsart, die in Schweden am häufigsten vorkommt - und kulinarisch gibt es an ihm nichts auszusetzen. "Er schmeckt nicht anders als die schwedischen Edelkrebse", sagt Koch Peter Johansson. Zum Glück für die krustentierbegeisterten Schweden ist die EU-Todesliste aber ohnehin Auslegungssache. Kein Land ist verpflichtet, seine invasiven Arten auszurotten. Es muss nur Vorkehrungen treffen, die ihre weitere Ausbreitung verhindern. Sie neu auszusetzen ist verboten.

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Hans Raab hat das am Vortag schon im Frühstücksfernsehen gehört, seine Kräftskiva ist also sorgenfrei und heiter. Eine Nachbarin hat Västerbottenpaj mitgebracht, eine Art Quiche mit würzigem nordschwedischen Käse. Weil die Krebse so teuer sind, kann, wer sattwerden will, sich nicht auf sie allein verlassen. Und der Schnaps, der in Schweden zu jedem Festessen dringend dazugehört, braucht ja auch eine Grundlage. "Die Kräftskiva ist schon auch ein Sauffest", sagt Raab, "auch wenn heute alle so anständig sind und nur ein Glas Wein trinken."

Neben Weißwein gibt es bei ihm ganz klassisch Bier und Aquavit, Fichtennadelschnaps und solchen aus Holunderbeeren. Vor jeder Runde steht jemand auf und singt ein Trinklied - Schweden haben ein gewaltiges Repertoire, das von Witzliedern über umgefallene Klohäuschen bis zu sehnsüchtigen Freundschaftsoden reicht: "Wer kann ohne Wind segeln, wer kann ohne Ruder rudern?"

Die Schale bei Tisch zu knacken ist eine Kunst

Dazwischen werden die Krebse geknackt: auf den Rücken drehen, Schwanz schräg nach oben abreißen und den mildwürzigen Sud ausschlürfen. Dann pult man das Fleisch aus der Schale, das weich ist und herrlich mild schmeckt. Auch lohnt es sich, die Scherenmit dem Messer aufzuhebeln, selbst wenn darin oft nur ein Häppchen zu finden ist und am nächsten Morgen die Finger schmerzen vom Knacken der harten Schale.

Am Ende, als sich die ersten Gäste schon verabschiedet haben und Hans Raabs Terrasse sich langsam leert, überwindet sich Kristina und singt auch noch etwas mit ihrer klaren Mädchenstimme: ein norwegisches Kinderlied über einen Dachs, der auf dem Dach sitzt. Zu Schwips und Schalentierseligkeit kommt nun, nach Mitternacht, also auch noch die Rührung. Alles wegen der Krebse? "Sie schmecken fantastisch", sagt Hans Raab, lehnt sich zurück und schaut in den dunklen Himmel über Östhammar. "Aber eigentlich geht es darum zu feiern. In einer Augustnacht. Unter dem Vollmond."

© SZ vom 27.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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