Garten:Der Kaktuskönig

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"Das ist ein gefährliches Hobby, nichts für sanfte Gemüter": Michael Kießling züchtet Kakteen. (Foto: Titus Arnu/Titus Arnu)

Michael Kießling züchtet im Chiemgau seltene Kakteen und verkauft sie für Tausende Euro. Doch wer bei ihm nur Deko fürs Wohnzimmer kaufen will, den schickt er weg.

Von Titus Arnu

Risse, Schwielen, Narben: Man muss nicht die Kunst des Handlesens beherrschen, um zu ahnen, was Michael Kießling schon erlitten hat. Seine Hände sehen so zerschunden aus, als hätte er mit bloßer Faust Steine geklopft. Manche Fingernägel sind blau und verformt, die Fingerkuppen von dicker Hornhaut überzogen. Gerade hebt er einen großen Kaktus mit schillernden Blüten hoch, die Stacheln scheinen ihm nichts auszumachen. "Das ist keine Haut, das ist Neopren", sagt Kießling, den alle nur Kaktus-Michi nennen. Und dann schallt sein helles, fröhliches Lachen durchs Gewächshaus. Es klingt so entwaffnend positiv, dass die Stacheln gleich etwas weicher wirken.

Michael Kießling, 52, wohnt und arbeitet an einem seltsamen Ort namens Bahnhof, einem Weiler im Chiemgau, der zur Gemeinde Pittenhart gehört. Weit und breit ist kein Bahnhof zu sehen, es handelt sich eigentlich auch nicht um ein Dorf, sondern um eine Ansammlung von Handwerksbetrieben und Lagerhallen auf der grünen Wiese. Niemand würde vermuten, dass hier eine der besten Adressen für Kakteen in ganz Deutschland und Europa ist: "Chiemgau-Kaktus", die Firma von Michael Kießling. In mehreren Gewächshäusern und Außenanlagen gedeihen mehr als 50 000 Kakteen. Er kultiviert kleinwüchsige Feigenkakteen, Lobivien, Gymnocalycien, wertvolle Hybriden, frostharte Kakteen, Spezialitäten wie den ballförmigen "Fußball-Kaktus" oder den winzigen "lebenden Granit", der aussieht wie ein grüner Kiesel.

Es ist ein heißer Sommertag im Chiemgau. Hunderte Blüten strahlen in schillernden Farben, der Gärtner steht in ärmellosem T-Shirt, Arbeitshosen und Strohhut inmitten der ganzen Pracht. Er arbeitet schon seit vier Uhr morgens, hat stundenlang gegossen, umgetopft und verpackt. Hunderte Kakteen gehen an diesem Vormittag in den Versand. Seit ein paar Jahren steigt die Nachfrage stark. Angestachelt von Hipstern, hat sich das frühere Rentnerhobby zu einem Hype entwickelt. In den USA ist der Verkauf zwischen 2012 und 2017 um 64 Prozent gestiegen, Gärtnereien kommen mit den Lieferungen kaum hinterher. Mode- und Designindustrie machen mit und produzieren Kaktuspyjamas, Kaktustassen, Kaktustoilettenpapier und Kaktustapeten, sogar Kondome gibt es im Kaktusdesign.

Trends kann man bei Kakteen schwer vorausahnen. Die Zucht dauert Jahre

"Dabei sind Kakteen eigentlich resistent gegen Moden", sagt Michael Kießling bei einem Rundgang durch seine "Kinderstube", das Gewächshaus, in dem er die Pflanzen vermehrt. Das Züchten von Kakteen ist eine langwierige Angelegenheit, auf Trends kann man nicht so einfach aufspringen. Kießling vermehrt Kakteen nach der so genannten Fleischer-Methode. Die Samen werden in Plastiktüten gepackt, wo sie keimen und mehrere Monate verbringen, danach kommen sie in einen Topf, nach einem Jahr hat man Babykakteen. Im dritten Jahr werden sie pikiert, erst nach vier bis fünf Jahren sind sie groß genug, um verkauft zu werden. "Trendfarben müsste man also schon fünf Jahre vorausahnen können", sagt Michael Kießling.

Die begehrtesten Kakteen sind derzeit Hybriden mit schillernden, gescheckten oder gestreiften Farbmischungen - Fehlfarben, die durch gezielte Züchtungen entstehen. Sammler ersteigern solche Einzelstücke für Hunderte bis Tausende Euro. Wichtig ist den Käufern auch, dass die Blüten nicht hängen oder seitlich vom Kaktus abstehen, sie sollen schön nach oben zeigen. Michael Kießling verkauft in seiner Gärtnerei und über seinen Webshop Hunderte solcher Prachtstücke, die Kunden kommen aus ganz Europa, manche sogar aus China, Russland oder den USA. Es gibt fanatische Sammler, die jeden Monat für mehrere Tausend Euro bei ihm bestellen. Für einen musste er mal ein Bestellverbot verhängen: "Der hatte eindeutig eine Kaktussucht, ich musste ihn vor sich selbst schützen."

Wie kann man sich dermaßen für eine so widerborstige Pflanze begeistern, die einem viel Geduld abverlangt? "Ein Kaktus ist eigentlich etwas Brutales, Hässliches, Abweisendes", sagt Michael Kießling, "wer sich auf diese Pflanzen einlässt, muss ein offener, sensibler Mensch mit sozialen Antennen sein, glaube ich." Und er muss Schmerzen ertragen können: "Das ist ein gefährliches Hobby, nichts für sanfte Gemüter." Der Züchter hat schon Stacheln im Kopf gehabt, in den Unterarmen und Händen sowieso, auch im Gelenk, so dass der Finger gequietscht hat. Selbst sein Kater Franzi, der ihm beim Arbeiten gerne um die Beine streicht, hat öfters mal Stacheln im Fell stecken.

Die begehrtesten Kakteen sind derzeit Hybriden mit schillernden, gescheckten oder gestreiften Farbmischungen. (Foto: Titus Arnu)

Der Lebensweg von Michael Kießling war insgesamt auch eher dornig. Er wuchs in der Kleinstadt Traunreut auf, in einem Mietshaus mit 14 Parteien, der Balkon war mit Blumentöpfen, Kräutern und Tomaten vollgestopft. Schon als kleiner Junge half er in einem Blumenladen um die Ecke aus. Als Schulkind beschloss er, eine Gärtnerlehre zu machen. Seine Eltern wollten das gerne verhindern, sie hatten es nicht so mit Pflanzen, den grünen Daumen hatte er vom Opa geerbt. Als Neunjähriger bekam er seinen ersten Kaktus geschenkt, als Belohnung nach einem Zahnarztbesuch. Das Ding kostete 4,95 Mark und ging bald ein.

Daraufhin lieh sich der Junge alle Fachbücher über Kakteen aus, die in der Stadtbibliothek verfügbar waren, tippte sie mit der alten Triumph-Schreibmaschine ab und klebte selbstgemalte Kaktusbilder auf die Seiten. Mit 13 begann er seine Kakteensammlung. 22 Jahre lang arbeitete er in verschiedenen Gärtnereibetrieben, 2006 machte er sich selbständig und baute seine eigene Firma in dem Weiler Bahnhof auf. Zwischendurch gab es eine schwierige Zeit, über die er nicht so gerne spricht, aber seine Erfahrungen scheinen schmerzhafter gewesen zu sein als alle Kaktusstacheln zusammen. Nur so viel: Als homosexueller Gärtner hat man es auf dem Land nicht immer einfach.

"Ich war immer bei den Außenseitern, bei den Schwachen, bei den Hilfsbedürftigen und habe mich um sie gekümmert und beschützt", sagt Michael Kießling. Er sieht da eine Parallele zwischen menschlichen und pflanzlichen Wesen in seinem Leben. Wenn man weiß, was sie brauchen und wie man sie anfassen muss, damit sie gedeihen, danken sie es einem irgendwann. Kakteen halten extreme Hitze aus, viele Sorten sind frosthart, einige lassen sich problemlos zusammen mit Stauden ins Freiland setzen, auch in feuchten und kühlen Gegenden. Was sie gar nicht leiden können: In torfhaltige Blumenerde gesteckt zu werden und dann auf einer Fensterbank zu verstauben.

Michael Kießling ist zwar ein gefragter Züchter, aber er ist auch Sammler geblieben, der seine Kakteen als Freunde betrachtet und ungern hergibt. Ein ganzes Gewächshaus voller Kakteen, darunter raumhohe Riesen und 65 Jahre alte Erbstücke, sieht er als seine Privatsammlung an. Viele Exemplare sind unverkäuflich. Der Reichtum an Farben und Formen sei ihm wichtiger als Geld auf einem Konto, sagt Michael Kießling. Sein Ehemann Helmut, der als Wagentechniker arbeitet, unterstützt ihn, wo er kann, hat aber keinerlei Ambitionen, was Pflanzen angeht. "Geld interessiert mich nicht, ich kaufe mir vom Gewinn eh nur wieder Blumen", sagt Kaktus-Michi und zuckt die Achseln. Wenn ein Kunde einen Kaktus als "Deko für die Glasvitrine im Wohnzimmer" sucht, schickt er ihn lieber weg: "Ein Kaktus ist doch keine Deko, sondern ein Lebewesen!"

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