Essen & Trinken:Endlich richtig reif

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Farbe annähernd rot, Form annähernd rund. (Foto: Peter Frank Edwards/Redux/laif)

Über die große, leicht irrationale Liebe der Deutschen zur Tomate, bei der es himmelweite Unterschiede im Geschmack gibt.

Von Max Scharnigg

Jeder hat eine Erinnerung an Tomaten. Manchmal geht sie so: Mit den Eltern auf einem Campingplatz namens Pineta Irgendwas, das Zelt steht zwischen Strandkiefern und in der Mitte ein wackliger Klapptisch. Darauf: buntes Plastikgeschirr, eine Papiertüte voll länglicher Tomaten, die fast nichts gekostet haben und die mit zwei roten Zwiebeln dick geschnitten werden, in eine große Schüssel. Ein bisschen grünes Öl darüber, Salz hatte man vom Schwimmen genug auf den Lippen.

Dieser schmucklose Tomatensalat, gegessen mit baumelnden Beinen im Campingstuhl, war die ganzen Ferien lang das beste Essen, jeden Tag aufs Neue. Es war das Einzige, was gegen den unspezifisch schlimmen Badehunger half und was man überhaupt in der Nachmittagssonne essen konnte. Die warme, frische Süße der Tomaten, die leichte Schärfe der Zwiebel - sogar das komische, italienische Brot, hart und leicht wie Plastik, dazu passte es.

So eine Tomatenerinnerung ist mächtig, und sie will stets aufs Neue bestätigt werden. Wie man Glühwürmchen und Sternschnuppen jeden Sommer unbedingt aufs Neue sehen muss, braucht man mindestens einmal im Sommer das richtige Tomatengefühl. Bei dem klar wird, dass diese Frucht mehr ist als die Summe ihrer Flavonoide und dass sie auch jenseits all der Soßen zaubern kann, die man unterm Jahr so beiläufig damit anrührt. Tomate in der Tube und in der Dose sind in der heimischen Küche ja nichts anderes als das dauerhafte Versprechen von Farbe, Geschmack und ein bisschen Süden.

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Wahrscheinlich tat es deshalb so weh, als neulich eine Meldung die Runde machte, wonach der Welthandel mit Tomaten fest in chinesischer Hand sei, fast jede dritte verarbeitete Tomate stamme mittlerweile von dort. Nichts Neues für den Branchenkenner, für den deutschen Kunden aber doch ein schmerzhaftes Erwachen. Sein Ketchup, sein Tomatenmark und womöglich auch die Gläser mit Polpa, Sugo oder Miracoli im Vorrat haben also vielleicht einen deutlich weiteren Weg hinter sich, als es die Italo-Folklore auf der Verpackung (und im eigenen Kopf!) bisher glauben machte. Keine andere Pflanze ist in unserer Vorstellung immer noch derart eindeutig verlinkt, mit Land (Südtalien), mit Farbe (Rot) und mit Jahreszeit (Sommer). Egal, was der globale Handel diktiert, es wäre einfach angemessen, wenn jede Tomatenkiste in einem knatternden Ape-Kleinlaster direkt aus Bari käme.

Am 8. August war der Welttag der Tomate, und dieser Anlass lieferte wieder Zahlen zur erstaunlichen Erfolgsgeschichte: Mehr als 10 000 verschiedene Sorten sind in der Sortenliste erfasst, mehr als 25 Kilo verzehrte Tomaten spricht die Statistik jedem Deutschen jährlich zu, und Deutschland ist der zweitgrößte Importeur überhaupt - nach den USA. Die in Kalifornien übrigens eine stolze World Tomato Society haben und Festivals, bei denen ihr gehuldigt wird - mit viel Bloody Mary.

Aber auch das deutsche Verlangen nach der Tomate ist heftig, die eigenen Anbauflächen und das bisschen Jahrhundertsommer können es längst nicht befriedigen. Deswegen kommen die frischen Tomaten aus Spanien und Holland, aus Marokko und natürlich auch noch aus Italien zu uns. Als Krönung gilt gemeinhin die reife Tomate aus dem eigenen Garten, sonnenwarm soll sie ja im Idealfall verzehrt werden und ihre Ernte nicht weniger als 20 Minuten zurückliegen, sagen die Experten. Bis es so weit ist, muss der Hobbygärtner aber feststellen, dass sie zickig sein kann, kräftig im Wuchs zwar, aber anfällig und eben oft nicht schnell genug, bevor Regen, Kälte und andere deutsche Phänomene wieder zuschlagen.

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Vielleicht kommt auch daher die große Sehnsucht nach der reifen Tomate, einfach weil sie nicht leicht zu kriegen und kaum je genug davon da ist. Wie jede große Liebe ist auch die Tomatenliebe ein bisschen irrational. Zum Beispiel sollen Tomaten zwölf Monate im Jahr vorrätig sein, sonst gibt's Rabatz in der Gemüseabteilung. Aber gerade bei einer Tomate ist der Unterschied zwischen gut und nicht gut doch so himmelweit, dass man nicht erklären kann, warum sie jemand zwischen November und Mai freiwillig nach Hause schleppt. Im gleichen Maße, in dem eine gute Tomate überwältigend ist, ist eine schlechte Tomate ja enttäuschend. Erdbeeren und Kirschen erlaubt man ihre Reifesaison, der Tomate aber nicht.

Aber chinesisches Tomatenmark? Wo die chinesische Küche sich doch kaum für Tomaten interessiert und die Pflücker angeblich nur einen Cent pro Kilo bekommen? Welches Karma kann da noch in der Dose übrig sein? Schon als man akzeptieren musste, dass in gigantischen Gewächshäusern in Holland die Tomaten aus Kokosfasern wachsen, und zwar megatonnenweise, war das ja irgendwie schwierig fürs Gesamtgefühl. Und auch wenn die Züchter aus Holland und Deutschland mittlerweile passable Imitationen von Tomatengeschmack in ihre Früchte zurückzüchten, liegen die immer noch zu stabil in ihrer dicken Longlife-Haut auf dem Küchentisch und wirken mit ihrem Dauerglanz wie etwas, das aus einer Fabrik kommt. Sicher, man kann sie essen, aber es ist eher wie Methadon im Vergleich zum echten Stoff: Also zu dieser Rispe Pomodorino, die man im Spätsommer endlich bei den Händlern findet und der man sofort anriecht, dass sie nicht nur Gewächshaushimmel gesehen hat.

Die Tomate macht schon mit ihrem Design gute Laune

Wenn es in der Küche auf einmal nach Tomate duftet, wenn man nicht mehr als eine Winzigkeit Salz pro Hälfte braucht, um die Augen zu verdrehen, dann versteht man sofort wieder, warum der Österreicher sie bis heute Paradeiser nennt und die Menschen früher Ausdrücke wie Liebesapfel angemessen fanden. Sie ist ja schon lautmalerisch so perfekt rund, mit ihrem Vokal-Dreiklang: To-Ma-Te. Ein Sommergebet! Und wie man den Mund bei diesem Wort in drei Richtungen zieht, so schmeckt sie auch, irgendwie dreidimensional. Sie ist ja nicht nur süß, sie ist ja auch tief, schmeckt nach ihrem Garten und den grünen Blättern. Die Tomate ist das obstigste Gemüse und macht, anders als Kartoffel und Sellerie, schon mit ihrem Design gute Laune. Goethe findet in ihr auf dem Weg nach Messina sogar regelrecht Zerstreuung: "Die gelben Äpfel des Solanum, die roten Blüten des Oleanders machen die Landschaft lustig." Haha!

Was es mit dem Solanum Lycopersicum genau auf sich hat, liest sich in Merck's altem Warenlexikon von 1920 recht nüchtern: Die Tomate bestehe aus 3,7 Prozent Fruchthaut, 10,9 Prozent aus Samen und 85,4 Prozent aus Fruchtmus, welches wiederum zu 95,31 Prozent aus Wasser besteht. Wie hat sie sich bei dieser schnöden Zusammensetzung in den letzten hundert Jahren so eine Macht erarbeitet? Nun, sie ist eben zu allem anderen auch eine Umami-Bombe, ein universaler Geschmacksverstärker. Mit einem Anteil von 140 mg natürlichem Glutamat pro 100 Gramm ist die Tomate etwa herzhafter und vollmundiger als Rindfleisch (20 mg natürliches Glutamat) und gibt jedem Topfinhalt etwas von ihrem Segen ab. Das macht sie unverzichtbar, deswegen spielt sie in so vielen Lieblingsgerichten eine Rolle, von Bolognese über Pizza bis hin zum Ketchupklecks auf Burger und Steak. Und als Tomatensaft im Flugzeug erinnert sie uns an die weit entfernte Erde und daran, dass wir noch nicht alle Sinne verloren haben.

Harzfeuer

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(Foto: Wikimedia Commons)

Eine der beliebtesten Tomaten in Deutschland, die ursprünglich in der DDR gezüchtet wurde und eine richtige Bilderbuch-Tomatenform aufweist. Eine gute Pflanze für Garten-Einsteiger, da sie sehr widerstandsfähig ist, zum Beispiel gegen Braunfäule - und gleichzeitig ein sehr robustes Wachstum an den Tag legt. Ebenfalls empfehlenswert ist die benachbarte Züchtung Harzglut, deren Früchte noch etwas früher reif werden und die zusätzlich noch resistent gegen den Tomatenmosaikvirus und Cladosporium sind.

Cœur de Bœuf

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(Foto: © Alice Wiegand/CC-BY-SA-3.0 (via Wikimedia Commons))

Auf Deutsch Ochsenherztomate - diese spektakuläre, gerippte Fleischtomate erlebt derzeit ein großes Comeback. Ihre bis zu 500 Gramm schweren Fürchte reifen von innen nach außen und schmecken deshalb auch schon, wenn sie noch ein wenig grün sind. Mit wenig Saft ist sie beim Aufschneiden beinahe trocken und hat kaum Kerne, deshalb ist sie sehr gut zum direkten Verzehr, für Caprese oder im Salat geeignet.

Mexikanische Honigtomate

Kleine Früchte so süß wie Pralinen und davon auch noch sehr viele - kein Wunder, dass diese Cocktailtomate seit einigen Jahren zu den beliebtesten im Eigenanbau gehört. Enormer Ertrag, besonders wenn sie von Regen geschützt ist.

Mariannas Peace

Diese Fleischtomate mit beinahe pinkfarbenem Fruchtfleisch wurde einst als teuerste Tomate der Welt gehandelt. Gezüchtet wohl Anfang des vergangenen Jahrhunderts in Böhmen, kamen Samen der Mariannas Peace mit Flüchtlingen des Zweiten Weltkriegs in die USA, wo sie bald als schmackhafteste Tomate der Welt galt. Angeblich wurden damals für fünf Samen dieser Tomate umgerechnet mehr als 20 Euro gezahlt. Heute ist sie wesentlich günstiger zu haben - aber immer noch eine sehr eindrucksvolle Speisetomate.

Pomodorino del Piennolo del Vesuvio DOP

Eine besondere Spezialität für Kenner und Italienreisende. Diese kleine, eierförmige Sorte mit einer markanten Spitze am Ende wird traditionell in einem Naturschutzgebiet an den Hängen des Vesuvs kultiviert. Die Rispen werden von den Landwirten nach der Ernte sorgfältig zu charakteristischen Trauben gebunden und für einige Wochen an Seilen aufgehängt - dadurch intensiviert sich der Geschmack noch mal. Unbedingt probieren, wenn sie irgendwo angeboten wird!

San Marzano DOP

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(Foto: Frank C. Müller)

Wird gemeinhin als beste Tomatensorte für die Herstellung von Soßen bezeichnet. Große, längliche Früchte mit besonders viel Fruchtfleisch. Die Legende besagt, dass die ersten Pflanzen dieser Art 1770 als Geschenk des Vizekönigs von Peru an den König von Neapel nach Europa kamen. San- Marzano-Tomaten tragen heute ein DOP-Schutzsiegel für besondere, regional zugeordnete Spezialitäten und sind im Eigenanbau etwas schwierig. Macht nichts: In gut sortierten Lebensmittelgeschäften sind sie praktischerweise auch schon in der Dose zu finden.

Also, falls noch jemand gezögert hat, sollte die China-Meldung den Ausschlag dafür geben, sich Mitte September mit einer Kiste San Marzano in der Küche einzuschließen. Zwei Dutzend Gläser eigener Tomatensoße für den Winter ist nicht viel Arbeit, rettet einen aber sehr. Und dann kann man bei jedem Öffnen das Tomatengedicht von Büchnerpreisträger Jan Wagner rezitieren, dessen letzte Strophe lautet:

sie kommen ihrer leuchtend roten kunst

im stillen nach, selbst nachts,

selbst morgens, wenn den matten

sternen der stolz verfliegt,

du aber kannst ruhig etwas lauter reden.

sag: tomaten.

© SZ vom 18.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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