Süßigkeiten:Gute Schokolade, böse Schokolade

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Neun Kilogramm Schokolade werden in Deutschland pro Kopf und Jahr verzehrt. (Foto: dpa)

Wer etwas auf sich hält, kauft Schokolade mit hohem Kakaoanteil. Kaum etwas ist heute im Food-Sektor so uncool wie Milchschokolade. Eine Ehrenrettung zu Ostern.

Von Anne Goebel

In seinem Buch "Charlie und die Schokoladenfabrik" schildert der britische Schriftsteller Roald Dahl den ersten Schokoladenkauf seines Titelhelden als eine Art Erweckungserlebnis. "Er riss das Papier auf und machte einen Riesenbissen. Und noch einen ... und noch einen... Oh, diese Wohltat, sich große Stücke von etwas Festem, Süßem in den Mund stopfen zu können. Die schiere, selige Freude." Wie überwältigt steht Charlie in dem Laden, ein kleiner Junge, den Mund voll mit braunem, cremigem Brei. Und es kann keinen Zweifel geben, was er da gerade verzehrt: Milchschokolade.

Das Erlebnis wird sich, vielleicht weniger ekstatisch, in diesen Tagen viele Male wiederholen. Ostern ist Schokoladenzeit, es darf gefuttert werden. Und überall dominiert der vertraut warme Karamellton: Die meisten Hasen und Eier bestehen aus Vollmilchschokolade. Was allerdings nach dem Kanon von Geschmackspäpsten, Foodies und weltberühmten Nachspeise-Bloggern nichts anderes bedeutet als: aus böser Schokolade.

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Dunkle Tafeln sind das Nonplusultra. Milchige Schokolade ist notorisch minderwertig, schädlich und insgesamt stillos. Unter Kennern gilt diese Zuspitzung längst als unumstößliches Gesetz. Bei aller gebotenen Skepsis - unseren Blick auf das Süßwarenregal hat der griffige Gegensatz in den vergangenen Jahren verändert. Bitterschokolade steht für aufgeklärte Verbraucher und intelligenten Genuss. Die hellbraune Durchschnittsware eher für gedanken- und zügelloses Mampfen.

Das sind für etwas so Erfreuliches wie Schokolade sehr unnachgiebige Fronten, und es ist schwer zu sagen, wann sie sich formiert haben. Fest steht: Kaum etwas ist heute im Food-Sektor so uncool wie Milchschokolade. Auch wenn sie, das sagen die Zahlen, massenweise vertilgt wird.

Natascha Kespy macht vor Ostern deutlich mehr Umsatz mit hellen als mit dunklen Hasen in ihrem Laden in Berlin. Vielleicht, sagt die Inhaberin von Winterfeldt Schokoladen, "weil vor allem Kinder beschenkt werden". Insgesamt verkaufe sich in Deutschland "Milchschokolade immer noch wahnsinnig gut". Neun Kilogramm Schokolade werden hierzulande pro Kopf und Jahr verzehrt, der Zartbitter-Anteil liegt bei weniger als 30 Prozent.

Anders sieht die Verteilung in Feinkostshops oder Chocolaterien wie Kespys Geschäft in Schöneberg aus. In den denkmalgeschützten Räumen einer ehemaligen Apotheke bietet Kespy Pralinen, Trinkschokolade und "Bean to Bar"-Tafeln an, also solche, bei denen meist kleine Manufakturen den Herstellungsprozess von der Bohnenröstung bis zum fertigen Produkt übernehmen. Das soll die Reinheit des Rohstoffs Kakao - sowie faire Bezahlung der Bauern - garantieren. Umbrabraune Pralinen mit Beerenfüllung oder ein Edelkarree aus Chuao-Bohnen: Dunkle Schokoladen sind die Highlights des preislich gehobenen Sortiments, das gilt für Winterfeldt genauso wie für Götterspeise in München oder die Xocolaterie in Hamburg. "In der Szene der Qualitätsschokoladen führt Milchschokolade ein Schattendasein", sagt Kespy.

Nichtmal beim Discounter ist man sicher vor Snobismus

Ob die Liebhaber überzuckerter Bissen, von der lila Kuh oder dem goldigen Schweizer Häschen, ihre Leidenschaft deshalb verbergen sollten? Bleibt ihnen nur die Heißhungerattacke wie beim beklagenswert überfressenen Bürgermeister aus dem Filmklassiker "Chocolat", der Exzess im Geheimen, während in der Öffentlichkeit kennerhaft an bröseligen Borken aus 100 Prozent Criollo genagt wird? Fakt ist: Vergleicht man den gesundheitlichen Effekt beider Sorten, fällt der Konsum von industrieller Milchschokolade als klares Fehlverhalten durch. Die auf die Azteken zurückgehende Bitterschokolade mit hohem Kakaoanteil und wenig Süße kann Studien zufolge Blutdruck und Cholesterinwerte senken sowie Entzündungen eindämmen. Milchschokolade, eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, besteht aus viel zu viel Zucker, Fett (der Schmelz!), etwas Milchpulver, wenig Kakao. Und macht vor allem dick. Sie ist eine Null-Nährwert-Schwäche, mit der man in Zeiten von Superfood eher hinter dem Berg hält.

Schokolade ist aber auch, in welcher Qualität auch immer, ein hoch emotionales Thema. Vielleicht liegt das an prägenden Kindheitserfahrungen oder an der komplizierten Lust-Schuld-Falle, in die jeder durchschnittlich gebaute Mensch nach einem Trüffel oder Riegel sofort gerät. "When did Milk Chocolate become the Pariah of the Chocolate World?", fragte im vergangenen Jahr eine amerikanische Autorin, wann geriet die helle Sorte ins Abseits? Ihr Lob des sahnig-karamelligen, auf beglückende Weise unvernünftigen Genussgefühls beim Verzehr von Milchschokolade hat einer Menge von Lesern gefallen. Es gab Briefe, Zuschriften mit kleinen Geschichten, natürlich viel Nostalgie.

Was Schmelz-Fans zu Recht beklagen: diesen anstrengend elitären Gestus rund um Zartbitterkakao. Fachsimpeleien in Magazinen und Foren. Das modische Jonglieren mit Herkunftsländern und Prozenten auf Schokoladentafeln (beim Discounter ist man davor auch nicht sicher). Die Zutaten von salzigem Veilchenkandis bis zur gegrillten Tonkabohne, kurz, Edelschokolade ist der ideale Nährboden für Snobs und Besserwisser. Da kann das eindimensionale Geschmackserlebnis der guten alten Alpenmilch eine Erholung sein. Auf erfrischende Weise gab kürzlich der englische Star-Bäcker Tamal Ray ("The Great British Bake Off") beim Ostereier-Test seine Vorliebe für milk chocolate zu Protokoll. "Bei Schokolade bin ich ein Proll. Ich mag es, wenn sie nach Fett schmeckt."

Dass Bewegungen wie Veganismus oder Clean Eating den Trend zu milchfreien und damit weniger cremigen Kakaoprodukten verstärken, liegt auf der Hand. Zur Idee einer gezügelten Essenskultur passt der herbe Charakter bitterer Schokolade bis hin zu "erdigen Torfaromen" ("Sambirano 70 Prozent" von Domori) viel besser als der suchtverdächtige Zuckerschub herkömmlicher Tafeln. Wobei sich auch bei Milchschokoladen etwas tut, erzählt Natascha Kespy: Rezepturen aus Kamel- oder Reismilch, mit höherem Kakaoanteil, weniger Kakaobutter und Zucker, intensiverer Röstung. "Das sind hervorragende Schokoladen", so Kespy, die zunehmend beachtet würden. Bei den International Chocolate Awards wurden 2018 in der Kategorie Milchschokolade etwa die österreichische Marke Zotter ausgezeichnet, der Schweizer Hersteller Idilio oder die deutschen Manufakturen Kilian&Close und Georgia Ramon.

Die Neuerungen der Basis geben auch an der Spitze mehr Bewegungsfreiheit. Christian Hümbs, Chefpatissier des Drei-Sterne-Restaurants "Atelier" im Bayerischen Hof in München, ist einer der innovativsten Konditoren Deutschlands. Der 37-Jährige sitzt in einer Pause beim doppelten Espresso an einem langen Tisch. Viel Zeit hat er nicht, das vorösterliche Geschäft brummt. Hümbs wirkt trotzdem entspannt und sagt, "traditionell ist dunkle Schokolade in der Patisserie wichtiger, weil sie vielseitiger einsetzbar ist. Das macht es interessant, sie mit anderen Aromen zu kombinieren".

Allerdings hält sich Hümbs, der für Dessert-Experimente wie Pilz- oder Sauerteigpralinen bekannt ist, nicht allzu lange mit Traditionen auf. Kein Wunder, dass ihn die "neuen Qualitäten und Facetten" im Bereich der Milchschokolade faszinieren. Ideen? Jede Menge. Er probiert sie gerade kalt geräuchert aus. "Oder wenn ich mir eine Praline mit Essigessenzen denke, dann sehe ich die mit milchiger Schokolade. Das federt die Säure ab."

Dass in seine Küche nur Spitzenrohstoff geliefert wird, ob schwarz, weiß oder braun, ist klar. Zuhause ist das etwas anderes. Hümbs macht jetzt ein fast feierliches Gesicht, als wolle er eine Deklaration verlesen. "Nichts gegen ein Stück ganz normale Milchschokolade", sagt er. "Ich liebe Kinderschokolade, habe sie schon als Junge geliebt. Und wenn ich sie mir ab und zu gönnen möchte, dann gönne ich sie mir." In diesem Sinne: frohe Ostern.

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