Gäbe es einen Wettbewerb für die zweifelhaftesten Gerichte aller Zeiten, "Nufleika" hätte gute Titelchancen: Der Nutella-Fleischwurst-Toast, der im Ofen mit Scheiblettenkäse überbacken wird, findet sich auf Chefkoch.de, dem mit mehr als 330 000 Rezepteinträgen bekanntesten deutschen Online-Forum für Hobbyköche. Und es steigert den Genuss sicher nicht, dass User "Wursstulle", der den Toast hier eingestellt hat, sich von einer Kindheitserinnerung zu dem Rezept inspiriert fühlte. Der Nachbarsjunge, erzählt Wursstulle, habe sein Fleischwurstbrötchen früher gern mit Nutella bestrichen.
"Nufleika" spielt auf dem Kochforum in einer Liga mit Gerichten wie "Rotwein-Bananen-Suppe" (450 g Bananen in einem halben Liter Rotwein püriert), "Bratwurst-Tarte Hawaii", "Kackikekse" oder der Torte aus grüner Götterspeise. Sie sind Steilvorlagen zum Spiel mit dem Ekel, und weil die Rezepte oft ernst gemeint sind, kann man sich gut darüber lustig machen, sogar vor zahlendem Publikum. Die Kölner Studenten Lukas Diestel und Jonathan Löffelbein haben das erkannt und 330 solcher Gerichte auf ihrem Blog "Worst of Chefkoch" mit Spott überzogen. Inzwischen ist ihre "Rezeptsammlung des Grauens" als Buch erschienen, die Autoren haben 150 000 Facebookfans gesammelt und touren mit einer Lese-Koch-Show durchs Land, mixen auf der Bühne Maggi mit Wodka oder schichten Salzstangen zu Auflauf.
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Der kulinarische Abgrund als Geschäftsmodell? Das wirkt nur logisch in einer Zeit, in der Essen Lifestyle geworden ist und so viel über Rezepte geredet wird wie nie zuvor, aber zugleich immer weniger Menschen wirklich kochen. Doch werfen Diestel und Löffelbein mit ihrer Fleischwurst-Comedy nebenbei eine ungewollt ernsthafte Frage auf: Was macht eigentlich heute ein wirklich gutes Rezept aus?
Nach einer Stunde Kochen haben die meisten Menschen keine Lust mehr
Das ist immer schwerer zu beantworten, schließlich steigt die Anleitungsflut am Herd so unaufhaltsam, dass der Überblick lange verloren gegangen ist. Jährlich erscheinen in Deutschland circa 2000 neue Bücher zum Thema Essen und Trinken. Ein Portal wie Chefkoch.de listet allein etwa 1900 Käsekuchenvarianten auf. Die Genussgemeinde ist so nischig wie nie, bei Rezepten lautet die Frage daher heute eher: gut wofür? "Nufleika" mag perfekt sein für Parodien und Partygespräche, Jamie Olivers "15-Minuten-Küche" garantiert, dass auch Doppelverdiener nach der Arbeit noch ein Essen auf den Tisch bringen. Und Köche, die Wert auf Instagram-Glanz legen, stimmen heute auch die Soßenfarbe auf die Einrichtung ab, über den Erfolg entscheiden dann Likes und Kommentare.
All das sei natürlich keine Garantie dafür, dass es am Ende schmeckt, sagt Brigitte Berghammer-Hunger. Die Chefin des Restaurants "Ödenturm" in der Oberpfalz ist zugleich Testköchin des Magazins Der Feinschmecker. Sie kocht täglich für Gäste, setzt Menüs auf, schreibt Kochbücher und prüft Rezeptvorschläge auf ihre öffentliche Tauglichkeit. Jedes Rezept behandelt sie wie einen literarischen Text, der mehrere Korrekturschleifen durchläuft.
In der Praxis sieht das so aus: Berghammer-Hunger probiert ein Gericht erst am Herd aus, schreibt ihre Ideen und den Kochablauf auf. Dann gibt sie den Entwurf an Leute weiter, die kaum Erfahrung mit dem Kochen haben. Ihre Testpersonen sind die Kinder ihrer Cousine, 16 und 18 Jahre alt. Die Köchin beobachtet die Teenager beim Kochen genau. "Wenn im Rezept steht: Zwiebeln in dünne Scheiben schneiden, heißt das für mich: maximal zwei Millimeter breit." Schneiden die Teenager dann "dicke Brocken" ab, präzisiert sie das Rezept, lässt einen Lehrling erneut kochen und probiert es dann selbst noch einmal. Erst danach gibt sie ihren Text frei.
Ein gutes Rezept ist also zuallererst ganz banal eine haargenaue Anleitung, bis auf die letzte Grammzahl und Garminute. Hier gilt: Alles Gute ist konkret.
Das fällt denen, die Rezepte entwerfen, allerdings oft nicht leicht. Für den Spitzenkoch Andi Schweiger etwa ist ein gutes Rezept vor allem eine Gratwanderung. Wenn es zu konkret wird, sagt er, "wird es auch schnell zu kompliziert". Schweiger führt ein Restaurant und eine Kochschule in München, schreibt Kochbücher und kocht in Fernsehshows. "Um ein Rezept richtig konkret zu machen, müsste man etwa Eier in Gramm angeben, die haben ja unterschiedliche Größen. Als ich das für ein Buch so aufgeschrieben habe, hat der Verlag es geändert." Ein Rezept muss also richtig, aber eben auch nutzerfreundlich sein.
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Schön unkompliziert: Schmeckt mit Karotten, Süßkartoffeln und Pastinaken - oder dem Wurzelgemüse, das Sie gerade vorrätig haben.
Damit das gelingt, legen sowohl Andi Schweiger als auch Brigitte Berghammer-Hunger Regeln für sich fest. Schweiger etwa merkt in seiner Kochschule oft, dass die Leute nach einer Stunde keine Lust mehr haben oder müde sind. Daher versucht er, die Zubereitungszeit von einer Stunde in Rezepten nie zu überziehen. Auch Zutaten dürfen Hobbyköche nicht überfordern: Acht bis neun seien optimal, findet Schweiger, und die sollten nicht zu ausgefallen sein: "Ein gutes Rezept hat Zutaten, die man in einer Kleinstadt besorgen kann", sagt Berghammer-Hunger. "Experimentelles Zeug" mag die Köchin ebenso wenig wie Rezepte, bei denen extravagante Produkte oder Zutatenreste übrig bleiben. Was soll man nach dem Kochen noch mit zwei Eiweißen anfangen?, fragt sie. Im Notfall versuche sie, "den Lesern Anregungen zu geben, wofür sie Leftovers oder extra gekaufte Gewürze verwenden können."
Vielleicht ist Nutella mit Fleischwurst am Ende doch nur eine Frage der Gewöhnung
Die Anforderungen an Rezepte sind mit dem Hype ums Kochen stetig gestiegen. Essen soll nicht nur satt machen und unterhalten, es ist ein Statement. Ob Gesundheit, Umwelt oder Tierethik, alles wird mitverhandelt, was man wie, wo und für wen kocht, spiegelt eine Lebenseinstellung. Die Rezepte passten sich dem unweigerlich an, sagt Brigitte Berghammer-Hunger: "Ein Rezept muss heute eine Wunderbox sein, grün, gesund, fancy, schnell, super lecker und bitte auch nicht zu teuer. Früher hat es gereicht, wenn die Leute nach dem Essen gesagt haben: billig war's, viel war's, und ja, hat man essen können."
So ist jedes Rezept auch das aufgeschriebene Dokument einer Generation und ihrer Ernährungstrends. Es sei ja gut, dass die Menschen ein größeres Bewusstsein für gesundes Essen entwickelt hätten, findet Berghammer-Hunger. Trotzdem ist die Köchin Trends gegenüber skeptisch. Zu Regenbogenkuchen oder in Bowls gedrückter Pizza sagt sie: "Der Sinn hinter einem guten Rezept ist nicht, irgendetwas mit Gewalt in Form und Farbe zu pressen." Sie merkt Rezepten schon beim Lesen an, ob sie nur für einen Trend erdacht wurden. Da habe dann "irgendjemand irgendwas aufgeschrieben" und es sei gleich klar: "Der hat das nie gekocht." Auch Andi Schweiger glaubt an Rezepte, die immun sind gegen Trends. Die jede Veränderung überdauern. Allein das sei ein Gütesiegel, sagt er. "Klassiker wie Wiener Schnitzel mit Kartoffelsalat sind toll. Auch Leberkäse mit Rahmspinat und Spiegelei zählt zu den Top 20 meiner Gerichte. Es gibt einfach Kombinationen, die gut angelegt sind und es verdient haben, zu bestehen."
Die Blogger Lukas Diestel und Jonathan Löffelbein sind dagegen froh, dass im Internet auch jede kulinarische Karteileiche fortbesteht. Auf Chefkoch.de tippen sie so lange Begriffe wie "herzhaft" und "Bananen" ein, bis sie bei Zutaten wie Hühnerherzen landen, die mit Bananen und Champignons als Lasagne auf den Tisch kommen. "Wir geben oft verschiedene Fleischarten in die Suchleiste ein. Da kommen dann echt skurrile Sachen raus wie die gefüllte Schildkröte." Gemeint ist ein Rezept, das erklärt, wie aus einem Kilo Hack, 48 Scheiben Bacon und 18 Würstchen ein schildkrötenartiges Monstrum wird.
Mit ihrem Blog wollten sie ursprünglich ein Gegenwicht zu der aufgehübschten, überästhetischen Kochwelt auf Instagram oder in Food-Blogs schaffen, sagen sie. Dort, wo selbst Spaghetti mit Tomatensoße wie ein Gemälde wirken. Die beiden Studenten haben mit ihrem ironischen Rezeptprojekt den Preis der "Food Blogger 2017" gewonnen. Dafür hat es gereicht, dass sie selbst "ganz okay " kochen können. Bei den Leseshows von "Worst of Chefkoch" dürfen die Zuschauer verkosten, was Diestel und Löffelbein aus ihrer schrulligen Mikrowelle holen. Und so ironisch wie sie sieht die Rezepte längst nicht jeder ihrer Gäste. Ein Zuschauer, so erzählen sie, sagte ihnen nach der Show: "Dieser Nufleika schmeckt einfach geil, den muss ich mal nachkochen."
Ist ein gutes Rezept am Ende doch nur eine Geschmacksfrage?
Brigitte Berghammer-Hunger urteilt diplomatisch über den Nutella-Fleischwurst-Käsetoast: Etwas Gewöhnung sei bei Geschmack schon im Spiel, "früher hat ja auch jeder gesagt: ,Toast Hawaii, bist du total verrückt?' Und heute wird's immer noch gegessen." Der frühere Sternekoch Andi Schweiger ist beim Nufleika-Rezept strenger: "Das klingt mir nach irgendwas planlos Zusammengewurschteltem." Denn Geschmacksregeln gibt es natürlich schon. Ein Rezept brauche eine gewisse Harmonielehre, sagt Schweiger. Die Kombination aus süß und salzig sei oft gut, aber Süße, Säure, Salzigkeit ideal aufeinander abzustimmen, sie "rund zu machen", das sei der wahre Weg zu einem guten Rezept.
Eine Königsregel kommt schließlich von Eckart Witzigmann, einem Mann, der nicht nur als einer der besten Köche überhaupt bekannt ist, sondern auch dafür, dass viele seiner Rezepte trotzdem als nachkochbar und präzise gelten. "Die Frage nach dem guten Rezept ist eine unendliche Geschichte", sagt Witzigmann. Es gehe ja immer weiter mit der Entwicklung am Herd. Am Ende helfe nur: genau und mehrfach lesen und sich über alle Rahmenbedingungen klar werden. Denn die Gleichung "Ein gutes Rezept macht ein gutes Gericht" gehe nur dann auf, wenn zwischen Verfasser und Ausführer "Waffengleichheit" herrsche.