Zuschauer in Budapest:Attacken auf die Trommelfelle

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Auch aus der Ferne betrachtet eine gewöhnungsbedürftige Kulisse: Die ungarische Mannschaft wird nach dem 0:3 gegen Portugal trotzdem von den Fans gefeiert. (Foto: Robert Michael/dpa)

Mehr als 60 000 Menschen verwandeln die vollbesetzte Puskas-Arena in ein akustisches Dauerfeuer. Auch die Bilder in der Stadt sind gewöhnungsbedürftig - und alles in allem doch ein Erfolg für Ungarns Premier Viktor Orban.

Von Javier Cáceres, Budapest

Es hatte schon etwas Belustigendes, als vor, während und nach der Partie die Corona-Verhaltensregeln auf den Stadionleinwänden der Puskas-Arena eingeblendet wurden. "Keep your masks on", war zum Beispiel zu lesen, oder auch: "Keep your distance." Und wenn einem danach sein sollte zu niesen: immer schön in die Armbeuge! Das alles wurde garniert von den allfälligen Symbolbildern und einem freundlichen Wunsch, der in ganz großen Lettern geschrieben stand und vielleicht doch nur ein frommer bleiben wird: "STAY SAFE!" Immer schön gesund bleiben.

Belustigend waren diese Standardformeln, die in allen elf EM-Austragungsstätten ausgestrahlt werden, weil Budapest in diesem Ensemble bislang eine Ausnahme darstellt. Die Regierung des rechtspopulistischen Viktor Orban, die aktuell unter anderem wegen einer Gesetzesnovelle kritisiert wird, die vor Homophobie nur so strotzt, hatte eine Vollauslastung des Stadions autorisiert. Und es wurde voll.

Mehr als 60 000 Menschen saßen in der Arena und verwandelten sie mit lautstarken Attacken auf die Trommelfelle in ein akustisches Dauerfeuer, in dem ein paar Tausend Portugiesen verschluckt wurden. Erst nach dem Ende der Partie, die einen 3:0-Erfolg für die Portugiesen bereithielt, konnte man die Gäste wahrnehmen. Gesichtsmasken blieben, wenn überhaupt, gut verstaut.

So oder so: Die Bilder waren auch ein Propagandaerfolg für Orban. Bilder aus einem Stadion sind immer mächtig, und die Aufzeichnungen vom Dienstag suggerieren, dass Ungarn die Lage unter Kontrolle hat. Es hatte ja einiges Theater gegeben, weil Orban die gemeinsame Corona-Politik der Europäer unterlief, etwa russische und chinesische Vakzine verimpfen ließ, noch ehe diese in der EU zugelassen waren. Nun wirkten die Szenen eines vollen Stadions fast schon triumphal. Sie lenkten auch fast unweigerlich den Blick darauf, dass Ungarn schon mehr als 40 Prozent der Bevölkerung die volle Impf-Dröhnung verabreicht hat.

Auf der überfüllten Fanmeile in der Innenstadt geht es schon mal griechisch-römisch zu

Gewöhnungsbedürftig war die Kulisse sogar für Menschen, die aus der Ferne zusahen. "Man kann nur hoffen, dass nichts passiert", sagte Uli Hoeneß bei Magenta-TV. Dabei hatte er nicht mal die Nahkämpfe der muskelbepackten Security-Leute auf der überfüllten Fanmeile in der Innenstadt gesehen. Es ging sehr griechisch-römisch zu, selbstverständlich maskenbefreit.

Schon vor der Partie hatte man in Budapest Bilder bezeugen können, die fast in Vergessenheit geraten waren. Tausende machten sich auf den Weg ins Stadion, das hinter dem Zentralbahnhof Budapests liegt, die meisten in den roten Trikots der Ungarn, manch einer von ihnen mit dem Namen des legendären Ferenc Puskas auf dem Rücken. Der Major ist einer der großen Helden des Landes, er war der Torjäger des Wunderteams der 50er Jahre, das bei der WM 1954 - "...aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen..." - so tragisch gegen Deutschland verlor. Wer in die Arena wollte, kam angeblich nur geimpft hinein. Und ebenso angeblich wurden die Eintrittskarten verlost und kontingentiert.

Nun begab es sich aber, dass sich eine größere Zahl von Sympathisanten und Mitgliedern der auch als rechtsradikal berüchtigten Carpathian Brigade am exakt gleichen Fleck im Stadion tummelten. So viel Lotterieglück aber auch! Die Brigadisten machten auch ein wenig Rabatz, als beim Stand von 0:0 ein Tor der Ungarn aberkannt wurde, wegen Abseits. Kritik daran gab es nicht, wie überhaupt in den Medien der "lange herbeigesehnte Tag" gefeiert wurde, ganzseitig in der Fachzeitung Nemzeti Sport.

Wer weiß, was losgewesen wäre, wäre die anderntags auf vielen Titelseiten verteufelte 84. Minute nicht gewesen, die das Abwehrbollwerk der Ungarn brechen ließ. Kritik gab es jedenfalls nur am Rande. Denn auch wenn keine teuren PCR-Tests für den Stadionbesuch nötig waren, geschröpft wurden die Zuschauer doch. Ein Hamburger kostete in der Arena ein Drittel des Preises für die billigste Eintrittskarte: "Horrorpreise im Stadion", wetterte die Zeitung Népszava in einer kleinen Notiz. Das kennt man freilich auch aus anderen Breitengraden.

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