Zehnkämpfer Freimuth in Peking:Den Zweifeln davongerannt

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Die deutschen Athleten erleben einen spektakulären Tag bei der Leichtathletik-WM, Höhepunkt ist die Bronzemedaille für den Zehnkämpfer Freimuth. Nur Diskuswerfer Harting ist unglücklich.

Von Johannes Knuth, Peking

Die Frage war eher harmlos, aber Rico Freimuth verspürte jetzt doch den Wunsch, ein paar Dinge loszuwerden. "Ich wusste, dass ich die letzte Runde diesmal spurten kann", sagte er über die 1500 Meter, die letzte Übung der Zehnkämpfer am Samstag.

"Weil mein Herz es mir gesagt hat. Mein Lebenstraum war immer eine Medaille bei Olympia oder WM. Ich habe mir immer gesagt, wenn ich das nie schaffe, dann gehe ich aus meiner Karriere raus und würde mich nicht so richtig mögen. Ich bin bislang immer an mir selbst gescheitert, ich konnte viel mehr. Diesmal war ich von Anfang an dabei. Ich hatte keine Flausen im Kopf, ich habe gerochen, da geht was. Ich habe mir erst ständig vorgestellt, wie ich Dritter werde, wie ich Fünfter werde, wie ich beim Stabhochsprung verkacke und nach Hause fahre. Ich habe alle Szenarien im Kopf gehabt. Tja, und dann ist das Bestmögliche passiert."

Der deutschen 4x100-Meter-Staffel fehlen zwei Hundertstelsekunden

Die Gemüter der deutschen Leichtathleten machten am Samstag dann doch einiges durch, an diesem vorletzten Tag bei der WM in Peking. Diskuswerfer Christoph Harting kam in seinem Wettkampf lange nicht voran. Sein letzter Wurf landete in der Nachbarschaft der Bronzeweite, doch die Kampfrichter gaben ihn ungültig. Harting habe die Kante des Rings mit seinem linken Schuh touchiert, entschied die Jury.

Ein Kampfrichter, der das Ganze ein wenig anders gesehen hatte, trug seine Zweifel bei der Wettkampfleiterin vor. "Die hat aber kein Englisch verstanden und einfach entschieden: Der Wettkampf ist vorbei", sagte Harting. Der Protest der Deutschen wurde abgewiesen. Die 63,94 Meter, die Harting anzubieten hatte, reichten nur für Platz acht. "Man muss die bitteren Pillen runterschlucken", sagte er. Sein Gesichtsausdruck legte nahe, dass das Ganze eine eher unappetitliche Angelegenheit war.

Auch Marie-Laurence Jungfleisch hätte fast mehr erreicht als Platz sechs im Hochsprung. Sie war dann aber "sehr zufrieden", immerhin hatte sie die starke Konkurrenz zu einer Bestleistung von 1,99 Metern gezogen. Die 4x100-Meter-Staffel der Männer vereinte Frust und Freude auf einmal, sie rückten auf Platz vier vor (38,15 Sekunden), weil die Amerikaner disqualifiziert wurden - bis zum dritten Platz war es dann aber auch nicht mehr weit.

Leichtathletik-WM
:Bronze für Freimuth, Frust bei Harting

Zehnkämpfer Rico Freimuth schnappt sich WM-Bronze, Ashton Eaton bricht den Weltrekord. Diskuswerfer Christoph Harting ärgert sich über das Kampfgericht, Usain Bolt holt sein drittes Gold.

Zwei Hundertstelsekunden, um genau zu sein. Und dann waren da natürlich die deutschen Zehnkämpfer, von denen zwei in den Katakomben ein wenig bedröppelt neben Freimuth standen, als der sein Herz ausschüttete und über seine 8561 Punkte sprach, die ihm eine Bronzemedaille eingebracht hatten. Kai Kazmirek (8448/6.) und Michael Schrader (8418/7.) haben das eigentlich auch drauf. Andererseits, befand Schrader: "Rico hat so lange nach dieser Medaille gegriffen. Ich gönne ihm das wirklich."

Rico Freimuth, 27, aus Halle/Saale, hat seit 2011 an nahezu jeder bedeutenden Veranstaltung seiner Branche mitgewirkt. Er wusste, dass er mehr Punkte anbieten konnte als jene 8300, die er Jahr für Jahr abrief, und je mächtiger er darauf drängte, umso schwerer wurden Gedanken und Glieder. Vor der EM 2014 in Zürich, sagt Freimuth, "hatte ich Probleme mit mir selber. Ich habe nicht so richtig gut gelebt, war das ganze Jahr alleine, Micha (Schrader, Anm.) war wegen seiner Verletzung in Duisburg."

In Zürich kratzte er 8308 Punkte zusammen. "Da bin ich wieder an mir gescheitert", erinnerte er sich am Samstag, "ich war total cholerisch. Eigentlich waren mein Trainer und ich schon getrennte Leute." Schrader, der wenige Meter neben Freimuth stand, sagte: "Du musst das irgendwann abschalten können, um arbeiten zu können." Schrader kennt da jemanden, dem es vor ein paar Jahren ähnlich erging: sich selbst.

Freimuth vertraut endlich widerspruchslos seinem Trainer

Freimuth verabschiedete sich nach der EM also in den Urlaub. "Und dann", sagte er, "habe ich den Entschluss gefasst, dass ich auf den Mann höre, der mir seit zehn Jahren alles beigebracht hat." Auf Wolfgang Kühne also, Bundestrainer der Siebenkämpferinnen, der in Halle/Saale eine Gruppe Hochbegabter zusammengeführt hat: Freimuth, Schrader, die Siebenkämpferinnen Jennifer Oeser und Cindy Roleder; Letztere gewann am Freitag Silber über 100 Meter Hürden. "Ich habe so oft auf mich gehört und es dann verkackt", sagte Freimuth. Manchmal ist es auch ein Zeichen von Reife, wenn man weiß, dass man gar nicht allzu viel weiß.

Seit Zürich, sagt Freimuth, habe er sich mit Kühne kein einziges Mal mehr gestritten. "Wenn du vor einem Wettkampf mit deinem Trainer eins bist, dann kommt dieser Flow, diese Welle", sagte er, "die habe ich hier erwischt." Vor den 400 Metern krochen die Zweifel wieder etwas näher an ihn heran, Freimuth wusste, dass es um seine Form auf dieser Strecke nicht allzu gut stand. Er lief dann 47,82 Sekunden, so schnell wie noch nie in dieser Saison.

Ob er erwachsen geworden sei, wurde Rico Freimuth am Samstag noch gefragt. "Ich denke schon", sagte er. Anschließend stapfte er gelassen hinein in die aufgekratzte Atmosphäre der Katakomben im Vogelnest, als Sportler, der recht zufrieden zu sein schien mit sich selbst.

© SZ vom 30.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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