World Series:Old-School-Baseball mit modernen Mitteln

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Dodgers-Fänger Austin Barnes berührt Rays-Schlagmann Manuel Margot, bevor dieser einen Punkt stehlen kann. (Foto: Kevin Jairaj/USA TODAY Sports)

In der Finalserie steht es 3:2 für die Los Angeles Dodgers. Das Duell mit den Tampa Bay Rays enthält so ziemlich alles, was die Sportart so faszinierend macht.

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Natürlich wurde, das haben die Baseball-Götter offenbar so festgelegt für die World Series in diesem Jahr, auch die fünfte Partie zwischen den Los Angeles Dodgers und den Tampa Bay Rays erst beim letzten Schlag entschieden - wobei es am Sonntagabend eher ein Nicht-Schlag war: Willy Adames stand für die Rays am Schlagmal, die 2:4 zurücklagen, am ersten Laufmal wartete Manuel Margot; ein Homerun wäre der Ausgleich gewesen. Dodgers-Werfer Blake Treinen hatte die brenzlige Situation ein klein wenig entschärft, indem er zwei gegnerische Schlagmänner ohne Treffer zurück zur Ersatzbank geschickt hatte. Nun also: Treinen warf, Adames schwang - daneben! Der Ball landete im Handschuh von Fänger Austin Barnes, die Partie war vorbei.

3:2 führen die Dodgers nun in dieser spannenden und spektakulären Best-of-seven-Serie und brauchen noch einen Sieg, um zum ersten Mal seit 1988 und vielen Enttäuschungen in den vergangenen Jahren den Titel zu gewinnen. Sie sind ja hoffnungslos romantisch beim Baseball, es gibt Sonette und Gedichte zu prägenden Momenten dieser Sportart, und vielleicht war es ganz gut so, dass der Titel über diesen entscheidenden Augenblick am Sonntagabend eher unspektakulär Treinen to Barnes - puff lautet. Bei den Partien davor ist nämlich so viel passiert, dass es für Gedichtbände reichen dürfte.

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Eine skurrile Aktion der Dodgers hilft den Rays zum zwischenzeitlichen Ausgleich

Es hatte nur deshalb 2:2 gestanden, weil die vierte Partie mit der wohl skurrilsten Sequenz dieses Sportjahres geendet hatte: Die Dodgers führten 7:6 und brauchten noch einen präzisen und wuchtigen Wurf von Pitcher Kenley Jansen zum Sieg. Am Schlagmal stand Brett Philips, den die Rays gewiss nicht aufgrund seiner Treffsicherheit verpflichtet hatten. Er war in dieser Saison lediglich bei jedem siebten Versuch erfolgreich, ein außerordentlich schwacher Wert, und er hatte nun bereits zwei Mal daneben geschwungen. Jansen warf, Philips schwang - und was dann passierte, gab dieser Finalserie eine neue Richtung und dürfte noch in Jahrzehnten debattiert werden. Sollten die Dodgers diese Serie verlieren, dann wird nicht Tinkers to Evers to Chance aus dem Jahr 1910 als das traurigste Baseball-Gedicht der Geschichte gelten, sondern Taylor to Muncy to Smith.

Der Schlag von Philips tropfte ins Außenfeld; genug für den Läufer am zweiten Mal (Kevin Kiermaier), den Ausgleich zu erzielen. Der Ball schlüpfte jedoch aus dem Handschuh von Dodgers-Outfielder Chris Taylor. Das passiert bei 10 000 Versuchen etwa zwei Mal, wenn es im Training oder einem unwichtigen Moment geschieht, dann lacht man kurz darüber, und die Dodgers hätten wohl auch darüber gelacht, wenn danach alles normal gelaufen wäre. Nur tat es das nicht, ganz im Gegenteil.

Taylor warf zu Max Muncy, der leitete weiter auf Fänger Will Smith, der an der Homeplate auf den Ball und den heranstürmenden Randy Arozarena wartete. Der musste den Ball fangen und dann mit dem Handschuh den Gegner berühren. Smith jedoch erwischte den Ball nicht, weil er den Handschuh zu früh in Richtung Arozarena zog. Das, je nach Betrachtungsweise, Fantastische oder Herzzerreißende daran: Arozarena war beim Umlaufen des dritten Mals gestolpert, Smith hätte also in aller Ruhe die Verlängerung herbeiführen können. So aber rappelte sich Arozarena auf und hechtete zum Sieg auf die weiße Platte. "Die Baseball-Götter waren auf unserer Seite", sagte Kiermaier danach über Taylor to Muncy to Smith.

Diese Szene ist das Extrembeispiel einer unterhaltsamen Finalserie, die so ziemlich alles enthält, was diese Sportart so faszinierend werden lässt. Es ist eine Abkehr vom Homerun-Geknüppel der letzten Jahre, obwohl es genügend auf die Tribüne geknallte Bälle gibt. Die sind freilich das Salz in der Suppe beim Baseball, doch ohne Suppe wird dem Zuschauer einfach nur ein Kübel Salz in den Mund gekippt. Die Dodgers und Rays kochen gerade eine feine Spargelcreme-Suppe - nicht die aus der Tüte, sondern die hausgemachte von Muttern. Es ist Old-School-Baseball mit modernen Mitteln.

Es gab bislang stibitzte Laufmale wie von Dodgers-Outfielder Mookie Betts während der ersten Partie (Titel des möglichen Sonetts: Mookie to second and third), der damit an Jackie Robinson erinnert, den legendären Dodger und ersten Afroamerikaner in der Profiliga MLB. Es gab die unfassbaren Treffer der Dodgers-Schlagmänner unter Druck während der dritten Partie, und es gibt freilich Clayton Kershaw. Der Dodgers-Werfer ist einer der Besten der Geschichte, patzte jedoch derart häufig in den Playoffs, dass ihm schon geraten wurde, sich schon im Oktober (also vor der Finalserie) in den Winterschlaf zu begeben. Nach zwei Siegen in dieser Finalserie ist Kershaws Comeback der Stoff einer Heldensage.

Es gibt auch grandiose Geschichten wie jene von Randy Arozarena: Der gab im Vorjahr sein MLB-Debüt, durfte sich vor den diesjährigen Playoffs nur 99 Mal am Schlagmal versuchen - ein mikroskopischer Wert - in seinen bislang 87 Versuchen in den Playoffs schaffte er neun Homeruns (Playoff-Rekord) und eine Schlag-Erfolgsquote von 35.1 Prozent. Das führt zu den im Baseball so fantastischen Debatten: Sollte man Arozarena freiwillig ans erste Laufmal schicken? Ist ein Linkshänder erfolgreicher gegen ihn? Sollten die Verteidiger ihre Positionen ändern? In diesen Momenten wird der Sport zur Wissenschaft für Stochastiker, eine alte Regel besagt: Nur zehn Prozent der Zeit geht es beim Baseball darum, was auf dem Spielfeld passiert, 15 weitere Prozent darum, was geschehen ist. 75 Prozent lang debattieren die Leute, was nun passieren müsste/könnte/sollte.

So war es auch am Sonntag: Taylor, die tragische Figur vom Samstag, leistete sich wieder einen Fehler (den zweiten bei 10 000 Versuchen), der Margot zur dritten Base schickte. Der wollte kurz darauf einen Punkt stibitzen, doch Kershaw und Barnes reagierten grandios, statt Margot stealing home hieß es: Kershaw, Barnes, Out! Im vorletzten Spielabschnitt hatte Arozarena die Chance zum Ausgleich, und Dodgers-Fans kauen nun bei jedem Versuch von ihm an ihren Fingern, weil längst keine Nägel mehr da sind. Er schlug, jedoch nicht weit genug, und kurz danach folgte das Ende: Teinen to Barnes - puff.

Die Serie wird am Dienstag fortgesetzt, und auch wenn es im Baseball zu 75 Prozent darum geht, was denn nun passieren wird, wäre eine Prognose für diese Partie und den Rest dieser World Series völliger Blödsinn. Es werden zunächst die Werfer Blake Snell (Rays, Linkshänder) und der Rechtshänder Tony Gonsolin gegeneinander antreten - alles andere wissen nur die Baseball-Götter.

© SZ vom 27.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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