WM 2010: Niederlande - Uruguay:Schwiegervater behält recht

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Hollands Trainer Bert van Marwijk sind die Kritiker zu Hause egal. Er formte eine Mannschaft aus Individualisten zu einem WM-Mitfavoriten, der den Geist Mark van Bommels trägt.

Moritz Kielbassa

"Lasst uns nicht neben unseren Schuhen laufen", hat Bert van Marwijk gesagt nach dem betörenden Viertelfinal-Sieg gegen Brasilien, und diese Redensart sagte viel über seinen Charakter: Schritt für Schritt, das ist die Botschaft des Trainers, Übermut, findet van Marwijk, wäre ein schlechter Mitspieler gegen Uruguay am Dienstag, wenn die Elftal ihr drittes WM-Finale erreichen könnte, nach den verlorenen von 1974 und '78: "Alle in Holland reden schon vom Endspiel", sagt er, "wir tun das nicht." Noch kein Bondscoach war Weltmeister, obwohl viele namhafte es versucht haben: Happel, Michels, Beenhakker, Hiddink, van Gaal, van Basten. Trainer mit Charisma, die als Taktikflüsterer und Raumvermesser galten, manche sogar als Philosophen. Jetzt hat van Marwijk, 58, die historische Chance. Ein sachlicher, nüchterner Gruppenleiter, in dessen Realismus jedoch viel Selbstvertrauen Platz hat.

WM 2010: Niederlande
:Glückskinder und Flaumträger

Seit dem WM-Finale 1974 gilt Holland als der große Rivale des deutschen Fußballs. Nach den Auftritten in Südafrika kommt man nicht umhin, die Elf sympathisch zu finden. Eine Vorstellung der Elftal.

Das färbt ab: "Wir wussten, dass wir siegen, es klingt arrogant, aber so war's", sagte Verteidiger Andre Oojer nach dem Coup gegen Brasilien. Arjen Robben, der Energiedribbler aus München, hielt sich nicht lange auf mit frohem Feixen, man habe noch zwei Spiele zu gewinnen: "Dafür sind wir hier". Es ist die Denkweise van Marwijks, der den WM-Titel zur "Mission" erklärt hatte, als er 2008 anfing beim Koninklijke Nederlandse Voetbal Bond (KNVB). "Damals wurde ich für diese Aussage belächelt", sagt er, denn die EM '08 hatte sich gerade in die Reihe der Turniere gefügt, in denen die Niederländer brillierten, aber keine Gladiolen nach Hause brachten. "Wir wissen", sagt Angreifer Dirk Kuyt auch diesmal, "dass wir jeden schlagen können". Der Jahrgang 2010 weiß aber auch, dass er eigene alte Gesetze besiegen muss.

Die Geschichte der Elftal enthält viele Episoden knappen Scheiterns: 1974 bestaunte die Welt ihren voetbal totaal vor, im Finale siegten rationale Deutsche. Im Halbfinale '98 gegen Brasilien blieb eine begnadete Ajax-Generation aus Amsterdam durch ein verlorenes Elfmeterschießen ungekrönt; 2006 im Achtelfinale gegen Portugal (0:1) ließ sich Holland trotz spielerischer Hoheit in eine böse Treterei verwickeln. Auch intern bildeten die vielen feinen Talente, die aus dem Füllhorn der niederländischen Fußballschule immerzu hervorgehen, oft eine streitbare Gruppe. Van Marwijk kann nicht zaubern, doch er versucht, alle Störfaktoren zu kontrollieren. Bisher: mit Erfolg.

Verführerischer Rausch zu Hause

Wieder ist die Erwartung in der Heimat groß, und der neue pragmatische Stil war für viele Fans gewöhnungsbedürftig. Inzwischen vernimmt van Marwijk stolz "die Euphorie zu Hause", er sagt aber auch, es sei "vielleicht gut", im fernen Afrika von diesem verführerischen Rausch wenig mitzukriegen - vor der zähen Aufgabe, als Favorit gegen Uruguay nicht wieder auf der Zielgerade zu stürzen. Und auch 2010 ist der Kader nicht frei von Künstlern mit Allüren. Im Spiel gegen die Slowakei fauchte Stürmer van Persie, van Marwijk hätte lieber "Sneijder auswechseln" sollen, nicht ihn; so zumindest übersetzte es im Fernsehen ein Lippenleser. Sneijder schoss daraufhin das 2:0, und van Marwijk soll noch in der Nacht den Eifersuchts-Vorfall bei einer Teamsitzung geklärt haben, friedlich.

Vielleicht ist dieser Lambertus van Marwijk aus Deventer, Provinz Overijssel, für die Elftal genau der richtige Trainer. Einer, der in die komplizierte Gemengelage kaum eigene Eitelkeiten einbringt. Einer, der als Kompromisslösung galt, vertretbar für alle großen Klubs des Landes, weil er als Profi nie in den Metropolen Amsterdam und Rotterdam spielte und auch nicht im südlichen Eindhoven. Feyenoord Rotterdam war seine erste feine Adresse als Trainer, sein größter Titel: der Uefa-Cup 2002, im Finale gegen Dortmund (3:2). Als ihn jene Borussia abwarb 2004, wurde er zweimal Siebter in der Bundesliga. Über van Marwijk hieß es: ein solider Trainer, kein großer. Hängen blieb der Vorwurf, van Marwijk trainiere zu lasch und zu selten, weil er lieber freie Tage in der Heimat verbracht habe.

WM 2010: Niederlande - Brasilien
:Misstöne statt Sambaklänge

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Als Nationalcoach steht er für Diskretion, Zielbewusstsein - und den Vorrang des Kollektivs vor Einzelinteressen. Die Fixierung auf den Titel ist ihm wichtiger als das traditionelle Schönheitsideal, der ewige Auftrag an die Elftal, offensives Spektakel zu bieten. Das liegt im Trend einer WM, bei der Solisten ohne intakte Teamordnung gescheitert sind (Messi, Ronaldo, Rooney) - und Länder Erfolg haben, die Mut zum Stilwandel zeigen. Sollen die Kritiker blöken, dass Holland nun mit alter deutscher Effizienz und Salamitaktik durchs Turnier geht. Na und, sagt van Marwijk, neun von neun Länderspielen 2010 wurden gewonnen, seit 24 kein einziges verloren. Obwohl das Team oft nicht mehr tat als das Nötige.

Womöglich liegt van Marwijk die Rolle des Turniermoderators sogar besser als die des Klubtrainers. Obwohl manche seiner Individualisten in Südafrika bisher nicht auf der Höhe ihres Könnens spielten - wie Sneijder, van Persie -, zeigt die Elftal eine neue Mentalität der Widerstandskraft. Ihr Aufbäumen nach schwacher erster Halbzeit drehte das Spiel gegen Brasilien, in dem der Kleinste, Sneijder (1,70 Meter), das 2:1 erzielte. Per Kopf. Kuyt betont das "Teamwork, wir gehen durch Dick und Dünn, fokussiert wie in einem Tunnel. Das ist diesmal der Mehrwert." Robben findet: "Unsere mentale Stärke ist das wichtigste." Dem Verbands-Chef Henk Kesler gibt die Gruppe gar ein "Gefühl der Unbesiegbarkeit".

Der Geist van Bommels

Diese Gruppe trägt auch den Geist von Mark van Bommel, FC Bayern, der den alten ziellosen Zauber durch ein Team von "kämpfenden Löwen" abgelöst sieht. Er und der gegen Uruguay gesperrte Nigel de Jong waren bisher der neue Ordnungsfaktor der Elf, zwei hart gesottene Sechser (statt 2008: Engelaar), die einer Abwehr von nur mittelprächtiger Qualität Schutz boten, gegnerische Spielmacher in Quarantäne nahmen und ein Gleichgewicht zu den Freigeistern vorne bildeten. Mit dem alten Bondscoach hatte sich van Bommel überworfen: "Van Basten und ich", sagt er, "das war keine gute Ehe".

Geheiratet hat van Bommel Andra van Marwijk. Er kehrte in die Elftal zurück und heute findet er, sein Schwiegervater trainiere "die beste Oranje-Elf, in der ich je gespielt habe."

© SZ vom 06.07.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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