US Open:Warten auf den Dinosaurier

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Ein fataler Moment der Unbeherrschtheit und doch ein Eklat mit Ansage: Die Disqualifikation des Weltranglistenersten Novak Djokovic wegen Unsportlichkeit ist der Tiefpunkt des chaotischen Turniers.

Von Jürgen Schmieder, New York/Los Angeles

Es gibt eine herrliche Szene im Film "Jurassic Park". Ein Wissenschaftler blickt in die Kamera und sagt: "Bekommen wir auf der Dinosaurier-Tour auch irgendwann mal einen Dinosaurier zu sehen?" Kurz darauf wackelt das Wasser, weil sich ein Tyrannosaurus nähert und für Chaos sorgt. Bei den US Open ist man derzeit versucht zu fragen: "Können wir bei diesem Tennisturnier auch irgendwann mal über Tennis reden?" Es geht auf der Tennisanlage in Flushing Meadows derzeit ja um viele Dinge: um die Corona-Pandemie, gesellschaftliches Engagement der Teilnehmer, Politik, Disqualifikationen - fast gar nicht geht es um Tennis.

Die Disqualifikation von Novak Djokovic am Sonntag, am Ende des ersten Satzes gegen Pablo Carreño Busta, ist der vorläufige Höhe- oder besser gesagt: Tiefpunkt dieses chaotischen Turniers - und der Grund, warum auch weiterhin nicht über Tennis diskutiert werden kann.

Der Wutausbruch von Djokovic zeichnete sich ab, so wie im Film die Ankunft des T-Rex durch das Mini-Beben im Wasserglas angekündigt wird. Der Serbe vergab beim Stand von 5:4 im ersten Durchgang drei Satzbälle und prügelte deshalb einen Ball mit voller Wucht gegen eine Seitenbande. Kurz darauf stürzte er, verletzte sich an der linken Schulter und musste behandelt werden. Er verlor neun Punkte nacheinander und das Aufschlagspiel zum 5:6. Er war frustriert und schlug den Ball von unten nach hinten, wo er wohl einen Balljungen und eine leere Wand vermutete. Es war ein wütendes Wegschlagen, so was passiert bei den US Open jeden Tag - nur traf Djokovic diesmal eine Linienrichterin am Hals.

Für Novak Djokovic sind die US Open nach seiner Unsportlichkeit vorbei. Erstmals wird die Nummer eins der Weltrangliste disqualifiziert, weil er eine Linienrichterin mit dem Ball getroffen hat. Im Gedächtnis bleibt das Bild der tief verängstigten Frau. (Foto: Danielle Parhizkaran/USA TODAY Sports)

Djokovic hatte fahrlässig gehandelt und die Gesundheit der Linienrichterin gefährdet, die lange behandelt und dann vom Platz geführt wurde. Er entschuldigte sich sogleich, dann bat er mehr als zehn Minuten lang beim Turnier-Schiedsrichter Sören Friemel um Verständnis und Gnade. Er spielte den Vorfall zunächst herunter: "Sie muss dafür doch nicht ins Krankenhaus, und ihr wollt mich dafür rauswerfen?" Dann forderte er eine Fortsetzung der Partie: "Ihr habt viele Möglichkeiten: Punktabzug, Satzverlust." Doch es half nichts: Djokovic wurde den Regeln entsprechend disqualifiziert. "Wir sind uns alle einig, dass es nicht mit Absicht passiert ist", sagte Friemel danach: "Aber er hat sie getroffen, und sie war verletzt." Das Kuriose: Wäre Djokovic weniger berühmt und nicht gesetzt für den Hauptplatz, wäre er wohl nicht disqualifiziert worden - auf den Außenplätzen wird wegen der Pandemie auf Linienrichter verzichtet und die Hawkeye-Live-Technologie verwendet. So hat Djokovic nicht nur das Match verloren, sondern auch alle zuvor beim Turnier gesammelten Weltranglistenpunkte und Preisgelder.

Zudem muss er 10 000 Dollar Strafe zahlen.

Nachdem seine Disqualifikation feststand, verließ Djokovic wütend den Platz, schwänzte die obligatorische Pressekonferenz und flüchtete auf dem Beifahrersitz eines Wagens von der Anlage. Erst später beruhigte er sich und erkannte wohl auch das Ausmaß der Affäre. Auf Instagram veröffentlichte er zerknirscht eine Stellungnahme: "Es tut mir extrem leid, dass ich ihr solch einen Stress bereitet habe. So unbeabsichtigt. So leer." Und weiter: "Diese ganze Situation lässt mich wirklich traurig zurück." Er wolle es als eine "Lektion" mitnehmen, für sich als Mensch und als Spieler.

Es wird nun auch bei Djokovic nicht um Tennis gehen. Oder den 18. Grand-Slam-Titel, den er hätte gewinnen können. Oder sein starkes Jahr mit 26 Siegen nacheinander; ohne die Corona-Pandemie hätte er womöglich einen noch besseren Saisonstart hingelegt als 2011 (41:0). Oder auch die Spielfreude, Eleganz und mentale Stärke, die ihn zum besten Spieler derzeit und zu einem der besten der Geschichte werden lassen. Ein Thema abseits des Platzes wäre gewesen, wie er sich als Gründer der neuen Spielervereinigung PTAP dafür einsetzte, dass Adrian Mannarino (Frankreich) am Freitag doch spielen durfte: Djokovic versuchte sogar, New Yorks Gouverneur Andrew Cuomo ans Telefon zu bekommen. Die US Open hätten eine Heldensage werden können für Djokovic, doch sie wurden zum Horrorfilm, weil nun völlig andere Dinge debattiert werden.

Die Disqualifikation garantiert immerhin Abwechslung im Männer-Tennis; zum ersten Mal seit mehr als vier Jahren wird nicht einer der so genannten "Big Three" - Djokovic, Rafael Nadal, Roger Federer - ein Grand-Slam-Turnier gewinnen. Nur will man doch, dass junge Herausforderer wie Alexander Zverev, Denis Schapovalov (Kanada) und Daniil Medwedew (Russland) den Thron sportlich erobern - und nicht, weil Federer wegen einer Operation die Saison beendet hat, Nadal lieber in Europa geblieben ist und Djokovic disqualifiziert wird. Das ist, als würden sich drei Tyrannosaurusse lieber verkrümeln als ihr Revier vor wilden Raptoren zu verteidigen.

Da hilft kein Bitten und kein Argumentieren: Novak Djokovic wird von den US Open ausgeschlossen. (Foto: Seth Wenig/dpa)

Es heißt oft, dass so ein Grand-Slam-Turnier erst in der zweiten Woche richtig beginne, wenn die Runden ab dem Viertelfinale schon ein bisschen nach Endspiel klingen. Von Dienstag an sind noch 16 Teilnehmer auf der Anlage, normalerweise wird es dann ruhiger bei so einem Turnier. Die Nebengeräusche verschwinden, wenn sich die Dramaturgie auf die Duelle der Besten zubewegt und es wirklich nur noch darum geht: Wer kann besser Tennis spielen? Nur: Was ist schon normal bei diesen US Open? Was auch immer passieren wird, es sollte sich niemand wundern, sollte bis Sonntag noch ein leibhaftiger Dinosaurier auftauchen bei diesem Tennisturnier.

© SZ vom 08.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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