US Open:Die Klagen der Gefangenen

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Darf derzeit keinen Schläger in die Hand nehmen: Kristina Mladenovic in New York. (Foto: Seth Wenig/AP)

Eine Französin darf nicht antreten, eine Belgierin will aus ihrem Hotel ausbrechen, und wenig ist transparent beim Grand-Slam-Turnier in New York - wie die US Open zum Spielball der Politik wurden.

Von Jürgen Schmieder, New York/Los Angeles

"Ich will weg von deinen Lügen und deiner Selbstzufriedenheit. Ich brauche dich nicht!" Es ist sicher kein Zufall, dass die belgische Tennisspielerin Kirsten Flipkens diese Textzeile aus dem Lied "I Want to Break Free" von Queen für ihr Instagram-Video gewählt hat, in dem sie aus dem Spielerhotel der US Open auszubrechen versucht. Ja, auszubrechen. Davor hatte sich auch der Franzose Adrian Mannarino ("Ich kann kaum schlafen, ich bin mental völlig ausgelaugt") über die Bedingungen beschwert, unter denen er das Grand-Slam-Turnier in New York bestreiten musste. Und Kristina Mladenovic, die kundtat: "Es ist abscheulich, wie sie uns behandeln. Ich habe den Eindruck, dass wir Gefangene oder Verbrecher sind."

Die Lage ist so: Alle, die engen Kontakt zu Benoît Paire (Frankreich) hatten, der vergangene Woche positiv auf das Coronavirus getestet worden war, wurden vom Turnier ausgeschlossen. Sechs sind bereits ausgeschieden, darunter Mannarino, dessen Partie gegen Alexander Zverev zunächst gar nicht hätte stattfinden sollen. Am Samstag wurde Mladenovic disqualifiziert, sie war mit Partnerin Timea Babos (Ungarn) auf Platz eins im Doppel gesetzt. Keiner von ihnen wird vor Freitag das Hotelzimmer verlassen dürfen, Verhandlungen zwischen den französischen und US-Behörden über eine mögliche vorzeitige Ausreise in einer Maschine der französischen Regierung sind vorerst gescheitert.

Es ist schwer, einen eindeutig Schuldigen für den Schlamassel zu identifizieren

Der Ton wird rauer, und es ist wichtig, dass sich auch Novak Djokovic eingeschaltet hat, aus zweierlei Gründen: Zum einen ist er nicht direkt betroffen, zudem ist er derzeit unumstrittener Branchenführer bei den Männern, kurz vor Turnierstart hatte er die Spielervereinigung PTPA gegründet, sein Wort hat Gewicht. Djokovic sagte: "Ich bin nicht glücklich darüber, wie diese Fälle gehandhabt worden sind. Die Kommunikation war nicht ideal. Ich sehe viele Ungereimtheiten."

Zur Erinnerung: Der US Tennisverband USTA hatte zur Durchführung der US Open ein Sicherheitsprotokoll erarbeitet. Darin war vermerkt, dass ein positiver Corona-Test zum Ausschluss vom Turnier führe - und dass all jene, die engen Kontakt zu dieser Person gehabt hatten, ebenfalls nicht teilnehmen dürfen. Klare Regeln, und die USTA wurde gelobt, dass sie so ziemlich jede Eventualität berücksichtigt und knallharte Konsequenzen angekündigt hatte.

Kurz vor Turnierstart wurde Paire positiv auf Covid-19 getestet und ausgeschlossen. Ermittlungen ergaben, dass zehn Spieler Kontakt zu ihm hatten. Den Regeln zufolge hätten auch sie nicht teilnehmen dürfen. Doch nun begann eine Kette aus Fehlern und Missverständnissen, die für Chaos sorgte - und dafür, dass das Turnier zum Spielball der Politik wurde. Die Verantwortlichen erarbeiteten mit dem Gesundheitsamt von New York zwei neue Sicherheitsprotokolle - allerdings, ohne die nicht-betroffenen Spieler oder die Öffentlichkeit über Details zu informieren.

Die einen - der an Rang drei gesetzte Daniil Medwedew (Russland), Damir Dzumhur (Bosnien) und Nicolas Mahut (Frankreich) - sollten nun zwar täglich statt alle vier Tage getestet werden, sich sonst aber ohne Einschränkungen auf der Anlage und im Hotel bewegen dürfen. Strenger wurde es für die anderen, die französischen Profis Mladenovic, Grégoire Barrère, Richard Gasquet, Adrian Mannarino und Édouard Roger-Vasselin sowie die Belgierinnen Flipkens und Ysaline Bonaventure: täglicher Test, Zimmerarrest im Hotel, persönlicher Transport zur Anlage. Dort durften sie keine Gemeinschaftsbereiche nutzen, es wurde für sie ein Bereich in der Arena Grandstand am Rand errichtet. Sie hatten keine eigenen Schlüssel, sie wurden stets von Mitarbeitern begleitet. Wie Gefangene.

Es war sicherlich nicht ideal, aber es war für die Veranstalter eine Möglichkeit, die zehn Spieler doch teilnehmen zu lassen. Sie alle waren mehr als zwei Wochen lang in dieser Blase in New York, sie alle wollen nach der mehr als sechs Monate dauernden Pause wieder Preisgeld verdienen. Das Problem: Das Turnier findet in Flushing Meadows statt, das Hotel befindet sich eine Autostunde östlich davon in Long Island. Das Gesundheitsamt des Bezirks verfügte, dass die Akteure ihre Zimmer nicht verlassen und zur Anlage fahren dürften. Die Anordnung kam offenbar von New Yorks Gouverneur Andrew Cuomo, der sich derzeit als unerschütterlicher Krisenmanager profiliert. Die betroffenen Spieler sind somit nicht nur ausgeschlossen, sie dürfen auch nicht mehr trainieren und sich auf die Turniere in Europa (Kitzbühel, Rom, Hamburg und die French Open in Paris) vorbereiten. Zuvor war ihnen zugesichert worden, auch nach dem Ausscheiden auf Sandplätzen üben zu dürfen. "Mannarino spielte um seine Freiheit", sagte Zverev, Djokovic ergänzte: "Die Spieler haben sehr wenig Informationen bekommen, sie haben kaum Gelegenheit, dafür zu kämpfen, dass sie spielen oder abreisen dürfen. Das ist sehr, sehr merkwürdig."

Es ist schwer, einen eindeutig Schuldigen für den Schlamassel zu identifizieren: Paire hat sich irgendwo infiziert. Die anderen Spieler hatten trotz strenger Auflagen Kontakt zu ihm. Was ihnen nun widerfährt, 14 Tage lang Quarantäne nach Kontakt (länger als 15 Minuten und näher als 1,80 Meter) zu einem Infizierten, ist genau so im ersten Protokoll vermerkt. Wenn Mladenovic über einen "Albtraum" klagt und sagt, sie wäre nie gekommen, hätte sie all das gewusst, dann muss ihr jemand sagen: Sie hätte es wissen müssen.

Nur: Die USTA hat das als herausragend gefeierte Protokoll geändert und offenbar vergessen, die Bezirks- und Bundesstaatsbehörden einzubeziehen. Sie hat mangelhaft mit den Profis kommuniziert und kann sich nicht mit dem Hinweis exkulpieren, doch nur Auflagen der Behörden zu befolgen. Die waren bekannt. Das hinterfragen die Spieler und auch, wie es sein kann, dass Mannarino am Samstag spielen durfte und Mladenovic am Sonntag nicht.

Ja, der Ton wird eindeutig rauer, weil die Spielerinnen und Spieler glauben, dass sie nicht in die Entscheidungen einbezogen und nicht ausreichend darüber informiert worden sind.

© SZ vom 07.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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