Missbrauch im Sport:Der Zorn der Turnerinnen

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"Ihr hattet nur einen Job", klagte Simone Biles während der WM 2019 in Stuttgart: "Uns vor ihm zu beschützen. Und ihr habt versagt." (Foto: imago images/AFLOSPORT)

Eine Netflix-Dokumentation beleuchtet den Nassar-Fall, den größten Missbrauchsskandal im Sport. Übrig bleibt tiefes Misstrauen und neue Wut.

Von David Wiederkehr

Und dann dieser Satz, kühl, scharf und endgültig: "Ich habe eben Ihr Todesurteil unterschrieben."

Am 24. Januar 2018 war das, in einem Gerichtssaal im US-Bundesstaat Michigan. An Richterin Rosemarie Aquilina lag es, das Urteil über Larry Nassar zu fällen und einen Schlussstrich zu ziehen unter einen der spektakulärsten Prozesse des Sports. Den schlimmsten Missbrauchsfall, das mit Sicherheit. Rund 140 Opfer waren während der mehrtägigen Verhandlung zu Wort gekommen.

23 Minuten brauchte Aquilina am Ende für die Urteilsverkündung. "Sie verdienen es nicht, noch einen Tag in Ihrem Leben frei zu sein", erklärte sie dem Angeklagten. Nassar, damals 55, muss für 40 bis 175 Jahre ins Gefängnis. Das Publikum klatschte. Die anwesenden Opfer umarmten sich. Wobei sie sich nicht Opfer nennen, sondern "Survivors", Überlebende.

Nun, mehr als zwei Jahre später, hat der Streamingdienst Netflix eine Dokumentation über den Skandal produziert. Ursprünglich hätte der 103-minütige Film bereits im Frühling in New York uraufgeführt werden sollen, nach der Absage des Tribeca Film Festivals wegen der Corona-Pandemie schaltet ihn Netflix nun diesen Mittwoch, 24. Juni, frei. Der Titel: "Athlete A" - ein Hinweis auf den ungeheuerlichen Hintergrund des ganzen Falles. Denn das US-amerikanische Turnen war ein nach außen verschwiegenes System. Nicht die Funktionäre, nicht die Behörden, Ärzte oder Eltern hatten den ersten Schritt zur Aufklärung riskiert, sondern eine noch minderjährige betroffene Turnerin, Maggie Nichols - in den Akten geführt als Athlete A.

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Der US-Turnverband, der tausendfachen sexuellen Missbrauch nicht verhindern konnte, soll aufgelöst werden. Das ist ein radikaler Schritt. Doch er kommt spät und wirkt hilflos.

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Gefangen in einem Erfolgssystem

Jahrzehntelang war Nassar Chefarzt von USA Gymnastics gewesen. Fünfmal reiste er für das Nationale Olympische Komitee (Usoc) zu Olympia. Mindestens 265 Mädchen und junge Frauen haben mittlerweile ausgesagt, dass Nassar sie missbraucht habe, die Dunkelziffer ist wohl weit größer, mit über 500 Opfern wird gerechnet. Dabei hat Nassar die Lage der Turnerinnen, deren Abhängigkeit und oft auch Einsamkeit ausgenutzt. Sie waren gefangen in einem Erfolgssystem, von dem sich oft auch die Eltern existenziell abhängig gemacht hatten und an dem viele zu lange festhielten.

Aufmerksam auf Nassars Methoden wurde die Öffentlichkeit erst am 4. August 2016. An diesem Tag erschien in der Lokalzeitung Indianapolis Star ein Artikel mit dem Titel: "Blind für sexuellen Missbrauch: Wie es USA Gymnastics verpasste, Fälle zu melden." Die Autoren und Autorinnen hatten monatelang recherchiert, in den Wochen danach meldeten sich immer mehr Frauen. So kam die Welle ins Rollen.

Die wichtigsten Zeugen für die Redaktion waren Rachael Denhollander, heute als Juristin federführend im Kampf der Opfer gegen USA Gymnastics, und vor allem Maggie Nichols, 22. Sie wurde als 15-Jährige erstmals von Nassar missbraucht. Als sie sich deswegen mit einer Teamkollegin austauschte, bekam das zufällig eine Trainerin mit, die sich wiederum an den Turnverband wandte. Doch zunächst geschah nichts: Man regelte die Dinge intern.

Der frühere Präsident von USA Gymnastics, Steve Penny, wurde einmal gefragt, ob er den Verdacht des sexuellen Missbrauchs durch einen Trainer den Behörden melden würde. Seine Antwort: "No." Bis heute wirkt dieses Prinzip fort. Erst vergangene Woche reichten US-Turnerinnen, darunter auch Rekordathletin Simone Biles, eine Klage ein. Sie verlangen die Freigabe eines Untersuchungsberichts des FBI, den dessen Justizbüro aus unbekannten Gründen unter Verschluss hält. Sie hegen den Verdacht, dass Aussagen unterdrückt werden.

Die Aufarbeitung ist in erster Linie ein Erfolg der Überlebenden und der Medien. Im Zentrum der Doku steht somit auch die Redaktion des Indianapolis Star. Das Schweigen wurde durchbrochen, weil mehr und mehr Sportlerinnen den Mut fassten, auszusagen. USAG indes mauerte, wo es nur konnte. Vereinzelt sind Personen bis heute im Amt, die für die Missbrauchskultur stehen, Mitwisser bleiben unbehelligt. Etwa das legendäre Trainer-Ehepaar Bela und Marta Karolyi, auf dessen Trainingsranch in Texas sich die Nationalkader stets auf Großanlässe vorbereiteten. Ohne Handyempfang, abgeschottet von den Eltern - und medizinisch betreut von Nassar.

Die Erste, die das Tabu brach und 2015 darüber sprach: Maggie Nichols, genannt "Athlete A" - wie auch die aktuelle Dokumentation. (Foto: AP)

USA Gymnastics beendet zwar rasch die Zusammenarbeit mit den Karolyis, doch fast gleichzeitig meldet der Verband Insolvenz an, um Forderungen nach Entschädigung nicht nachkommen zu müssen. Auch das amerikanische Olympiakomitee kommt wohl ungeschoren davon. Eine Anfang 2020 in Aussicht gestellte einmalige Zahlung über 215 Millionen Dollar soll alle laufenden Verfahren stoppen und jegliche weitere Ansprüche der Opfer ausschließen.

All das erzürnt die Frauen aufs Neue, sie fordern außer weiteren internen Untersuchungen auch Maßnahmen, um künftige Fälle zu verhindern. Allen voran macht Biles Druck, die Turnerin, der die Funktionäre viele goldene Momente zu verdanken haben, die ebenfalls von Nassar missbraucht wurde und die über den US-Turnverband heute verbittert ist: "Ihr hattet nur einen Job", klagte sie im Herbst, während der WM 2019 in Stuttgart an die Adresse der Verbände: "Uns vor ihm zu beschützen. Und ihr habt versagt."

© SZ vom 24.06.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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