Missbrauch im Turnen:Sie verdienen etwas Besseres

2018 FIG Artistic Gymnastics Championships - Day Ten

Simone Biles bei der WM in Doha.

(Foto: Getty Images)

Der US-Turnverband, der tausendfachen sexuellen Missbrauch nicht verhindern konnte, soll aufgelöst werden. Das ist ein radikaler Schritt. Doch er kommt spät und wirkt hilflos.

Kommentar Von Barbara Klimke

Neun Medaillen haben sich die US-Athleten bei der Weltmeisterschaft in Doha vergangene Woche erturnt, viermal erklang die Melodie von "Star-Spangled Banner". Es könnte die letzte Staatshymne für einen Verband gewesen sein, der eine Hymne nicht verdient: Das Nationale Olympische Komitee der Vereinigten Staaten hat jetzt formale Schritte eingeleitet, die zum Ausschluss des amerikanischen Turnverbands, USA Gymnastics, führen sollen.

Denn die höchste Sportbehörde der USA ist zu der Erkenntnis gelangt, dass es den Turnfunktionären an Strukturen und Sanktionsmöglichkeiten fehlt, vielleicht auch einfach nur an Einsicht und Mitgefühl, um angemessen auf den tausendfachen sexuellen Missbrauch von Kindern und jungen Frauen zu reagieren. "Ihr verdient etwas Besseres", hat die Vorsitzende des NOK, Sarah Hirshland, den Athletinnen versichert.

Die Auflösung eines Verbandes mit dem Ziel, ein neues, verantwortungsvolleres Gremium aufzubauen, ist ein radikaler Schritt. Und dennoch wirkt es eher wie ein hilfloses Unterfangen angesichts der Folter, der die Turnerinnen durch den über zwanzig Jahre lang agierenden Teamarzt Larry Nassar ausgesetzt waren. Ohnehin stellt sich die Frage, warum USA Gymnastics im Herbst 2018 überhaupt noch einmal die Fürsorge für eine WM-Mannschaft übernehmen durfte - neun Monate nach dem dritten und letzten Urteil gegen Nassar, der zu einer Haftstrafe von bis zu 175 Jahren verurteilt wurde.

Der Glaube, dass eine Sportföderation über genügend Integrität verfügt, kriminelle Vorgänge in ihren Reihen aus eigener Kraft sauber aufzuarbeiten, war schon immer fahrlässig bis naiv. Das zeigen die Fälle in diversen Weltverbänden. Auch die Verbrechen im US-Turnen hatten anfangs nicht etwa die Funktionäre angezeigt; vielmehr war es eine Athletin, die den Mut hatte, an die Öffentlichkeit zu gehen. Dass es anschließend Versuche der Vertuschung und Verharmlosung gab, ist aktenkundig. Erst im Oktober wurde der frühere Verbandschef, Steve Penny, wegen Verdachts der Beweisvernichtung festgenommen. Seine Nachfolgerin musste nach neun Monaten gehen, weil sie eine Trainerin einstellte, die Sympathien für Nassar zeigte. Die nächste Präsidentin hielt es nur wenige Tage aus.

Und auch im Nationalen Olympischen Komitee, das jetzt durchgreifen will, wurde Chefin Sarah Hirshland, früher Vermarkterin im Golf-Verband, erst in der Folge des Missbrauchskandals ins Amt gehoben. Das NOK steht seinerseits unter Druck, weil die Parlamentarier im Kongress untersuchen, wie es im Sport zum Missbrauch von Schutzbefohlenen kam. Das Thema wird die Verbände noch Jahre beschäftigen, aber das ist nicht das Schlimme. Das Schlimme ist: Die Turnerinnen lässt es nie mehr los.

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