Nein, das war lange nicht selbstverständlich in einer deutschen Turnmannschaft. Dieses Metier von Turnvater Jahn ruhte schließlich auf Disziplin, und da hatten die Älteren in den Mannschaften immer das Sagen. Greenhorns wie heute Pascal Brendel, Lucas Kochan und Nick Klessing hätten da nicht mal eben im Turntraining aus Chemnitz rüber nach Unterhaching ein Video gepostet, in der Silbermedaillengewinner Lukas Dauser in irgendeiner missratenen Turnszene im Netz eine schön dämliche Figur macht.
Heute setzt sich einer wie Dauser, Olympiazweiter am Barren und unter den Nichtverletzten der beste Allrounder im Team, so schnell es geht, zu Hause in Unterhaching hin - und schießt zurück. Vielleicht mit einer Szene, wie etwa Brendel, gerade erst 20 geworden und eher schmächtig, aus Kraftproblemen frühzeitig von den Ringen rutscht. All dies und noch viel mehr stärkt dieses Team.
Leistung gedeiht in diesem Sport nur mit Selbstbewusstsein, Stärke und Technik allein genügen nicht. Die deutsche Turnmannschaft von Bundestrainer Valeri Belenki setzt schon seit längerer Zeit in diesem nervenraubenden Einzelsport auf eine weitere Tugend: Solidarität, oder sportlich gesagt, Teamgeist. Bei der Weltmeisterschaft in Antwerpen haben alle gerade zusammen diesen Geist gefeiert, mit Gebrüll und geballtem Bizeps, denn sie hatten ein kleines Wunder geschafft: die direkte Qualifikation für Olympia in Paris nächstes Jahr. Und zwar mit einem Auftritt, den es so lange nicht mehr im Deutschen Turnerbund gegeben hat. Belenkis Akrobaten lagen nach dem ersten von zwei Qualifikationstagen auf Rang vier, hinter ihnen waren die Riegen vieler starker Nationen platziert, etwa China, was auch daran lag, dass deren Teamführung manchen Crack zu den Asienspielen geschickt hatte. Andererseits hatten die Deutschen eine sehr ordentliche Mannschaft aufgeboten, mit dem Gruppengeist als fünften Mann.
Auf den dicken Schultermuskeln lastet eine erhebliche übergeordnete Verantwortung
Von Teamgeist reden alle Mannschaften, aber es ist ein Unterschied, ob eine Mannschaft wirklich eine flache Hierarchie lebt und untereinander tatsächlich offen spricht, oder ob sie das nur behauptet. Das deutsche Team, das in früheren Zeiten auch schon in seiner Spitze Rivalitäten auffangen musste, hat einen neuen Ton gefunden: "Fehler sind passiert, aber: Das Team hat alles abgefangen, es ist drangeblieben und hat gefightet," sagte etwa Ringe-Spezialist Nils Dunkel, 26: "Jetzt stehen wir vor der Türkei und China - unglaublich." Der junge Pascal Brendel wiederum betonte: "Wir gehen als Team da raus, turnen voll auf Angriff, es gibt kein Zurückhalten mehr!" Schließlich, nochmal Dunkel, leicht gerührt: "Das Pferd ist mein Top-Gerät, weil ich da keine großen Fehler mache, außerdem hat sich auch das Team darüber gefreut, und da freu' ich mich dann noch viel mehr."
Es ist ja auch so: Auf den dicken Schultermuskeln, die auch die deutschen Turner aufgebaut haben, lastet eine nicht zu unterschätzende übergeordnete Verantwortung. Die beiden deutschen Riegen von Frauen und Männern sind die Elite eines riesigen Verbands, der nach dem Deutschen Fußball-Bund zweitgrößten Sportföderation hierzulande. Und die Präsenz dieser Riegen bei Olympia (Qualifikation der deutschen Frauen am Montag, ab 17.45) bringt viel Aufmerksamkeit, Nebeneffekte und Vorteile im Deutschen Turnerbund, auch von Faustball bis Indiaca.
Im jenem Moment indes, als es am Samstag um die Reise nach Paris ging, dachten Belenkis Turner sicher nicht an Prell- oder Schleuderball (auch diese gehören zum DTB). Sie sind Profis, die im entscheidenden Moment die erweiterten Sorgen ausblenden und sich auf das konzentrieren, was ansteht, sogar dann, wenn man eigentlich schon draußen ist aus dem Wettbewerb.
Personifizierung eines Teamgeists: der kurz zuvor verletzte Topturner Andreas Toba
Den vielleicht größten Anteil am Teamgeist an diesem Samstag hatte Andreas Toba. Der Älteste im Team und der stärkste deutsche Reckturner hatte sich bei der Vorbereitung verletzt. Das Knie war lädiert, weshalb er einige Wochen ausfallen wird. Toba indes dachte nicht daran, hier aufzugeben, er ließ sich medizinisch versorgen und half während des gesamten Auftritts bei dieser Teamqualifikation mit. Überprüfte beim ersten Gerät, dem Reck, die Matte, checkte die Seilspannung und rief dem ersten Deutschen ermunternde Worte zu, wie auch kurz vor der Bodenübung. Er gab Tipps fürs Pauschenpferd, die Ringe, den Sprungtisch und staubte höchstselbst ein letztes Mal den Barren mit Magnesia ein. Er konnte in diesen knapp zwei Qualifikationsstunden durchaus als personifizierter Teamgeist gelten.
Am Tag danach jedenfalls, als am Nachmittag auch die restlichen Teams ihre Qualifikation hinter sich gebracht hatten, war die Welt des DTB nochmal in kräftigeres Rosa getaucht, und die Akteure staunten. Das DTB-Team stand bei einer Weltmeisterschaft auf Platz fünf; es hatte China weit hinter sich gelassen, die große Turnnation stand auf Rang acht, während Frankreichs Turner als 19. der Olympiaqualifikation nun sogar die Spiele mit großem Abstand verpassen wird.
Zuversicht, Aufmerksamkeit gegenüber dem anderen und eine gepflegte Blödelei haben zurzeit Franzosen und Chinesen eher nicht im Team. Auch Dauser legt ja Wert darauf, dass die Älteren den Jüngeren zuhören und sie "an unseren Erfahrungen teilhaben lassen, an guten und an schlechten". Umgekehrt, findet er, gilt dies auch. Zwar nicht an Erfahrungen, die Jüngeren haben davon ja noch kaum etwas, dafür etwas anderes: "Abgezocktsein," antwortet Dauser, die Jüngeren können etwas durchziehen, ohne Bedenken. Wie sein jüngster Teamkollege Pascal Brendel, der nun also auch ein bisschen Vorbild für den Spitzenturner ist.
Vielleicht war es dann auch dieser Gedanke, dieses Abgezocktsein, das dem Olympiazweiten am Lieblingsgerät Barren den entscheidenden Schwung verliehen hatte, was Dauser durch seine letzte Übung zur Bestnote brachte. Und was alle, ihn, das Team und mit Sicherheit auch den Geist einander nochmal hochleben ließ.