Tour de France:Die Attacken der Giraffe

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Der erste große Sieg: Nils Politt. (Foto: Stephane Mahe/Reuters)

Nils Politt zählt nicht nur wegen seines Etappensiegs bei der Tour de France zu den stärksten deutschen Radsportlern. Er ist wie geschaffen für Fluchtversuche, nun nimmt er auch den Kopfstein-Klassiker Paris - Roubaix ins Visier.

Von Johannes Aumüller, Nimes

Die Tour-Erfahrung von Nils Politt umfasste gerade mal einen Prolog und eine Etappe, als er etwas tat, was er später noch oft wiederholen sollte: Er attackierte. Es war der Sommer 2017, Politt war als Rundfahrt-Debütant für das inzwischen untergegangene Team Katjuscha dabei, aber seine Unerfahrenheit scherte ihn nichts. Also griff er am dritten Tag mal an und fuhr lange in der Ausreißergruppe, doch 30 Kilometer vor dem Ziel war er vom Feld gestellt.

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Der Brite holt seinen 34. Tagessieg bei der Frankreich-Rundfahrt - und zieht in dieser Kategorie mit der belgischen Legende Eddy Merckx gleich.

Gut vier Jahre später steht Politt, 27, am Freitagmorgen auf dem Boulevard des Arènres in der Stadt Nimes. Hinter ihm befindet sich der mächtige Palais de Justice, vor ihm das Village Depart, in dem sich der große Begleittross der Rundfahrt allmorgendlich auf den neuen Tag einstimmt. Das Feld präpariert sich für den Start, und der Mann aus der Bora-Hansgrohe-Mannschaft wirkt mächtig stolz - nur wenige hundert Meter von dem Ort entfernt, an dem ihm am Vorabend ein überraschender Coup gelungen war und er als erster Deutscher bei der Tour 2021 eine Etappe gewann.

In gewisser Weise war dies der Lohn für jahrelange Bemühungen. Politt erinnert sich noch an seine Debütanten-Tour 2017, "da hätte es fast mit dem Bergtrikot geklappt". Wie oft er es seitdem in Ausreißergruppen versuchte, hat er nicht gezählt, sehr oft war es jedenfalls. Aber für den ganz großen Triumph reichte es nicht - bis Donnerstag in Nimes, wo er als letzter Verbliebener einer 13-köpfigen Ausreißergruppe allein ins Ziel kam. "Selbst in ein paar Monaten werde ich das noch nicht realisiert haben", sagt er.

Dabei steht Politt, der in Köln geboren wurde und bis heute in der Nähe wohnt, schon eine ganze Weile neben Namen wie Maximilian Schachmann oder Emanuel Buchmann für eine neue deutsche Radsport-Generation. Zwar gelang ihm bis Donnerstag nur der eine Karrieresieg bei der Deutschland-Tour, dennoch zeigte er stets Qualitäten. Seit 2017 fuhr er jährlich bei der Tour und war dort meist recht aktiv. In 21 Rennen wurde er Zweiter oder Dritter. Und insbesondere 2019 spielte er bei den bedeutsamen Frühjahrsklassikern eine starke Rolle: Platz fünf bei der Flandern-Rundfahrt, Platz zwei bei Paris - Roubaix. Er sei "für diese Rennen geboren", befand sein damaliger Katjuscha-Teamchef Dirk Demol.

Trainer Lorang sagt, dass sich Politt in allen Bereichen um ein, zwei Prozent gesteigert habe

In der Tat ist Politt nicht nur wegen seines kämpferischen Naturells, sondern auch wegen seiner Statur wie geschaffen für Fluchtversuche und Eintagesrennen: Eine Größe von 1,92 Metern, ein Tour-Kampfgewicht von 82 Kilo und sehr lange Beine kombiniert er. "Giraffe" lautet daher sein Spitzname in seinem Kölner Trainingsquintett, in dem jedes Mitglied einen Tiernamen trägt - unter anderem der Sprinter André Greipel als "Gorilla", der am Donnerstag zufälligerweise mit Politt in der Fluchtgruppe war und seinem Fast-Nachbarn ein paar Tipps gab, wie er sich am besten verhalten solle.

Dan Lorang kennt Politt erst seit Beginn dieses Jahres. Der Luxemburger ist der Cheftrainer der deutschen Bora-Equipe, der sich Politt nach vier Saisons bei Katjuscha und ISN im Winter anschloss. Lorang fliegt erst am Sonntag zur Tour, den Sieg sah er sich am Fernseher an. Politt wollte das Team unbedingt verpflichten. "Wir wussten, dass er ein Fahrer ist, der eine hohe Tempohärte hat und der sehr hohe Werte treten kann, aber dass er auch jemand ist, der sehr mannschaftsdienlich sein kann", sagt Lorang am Telefon.

Aber so tempohart und erfolgreich Politt vorher schon war, er hat sich ganz offensichtlich in seiner Bora-Zeit noch einmal gesteigert. Es gehört zu den Standardübungen des Teams, dass die Fahrer im Training über eine bestimmte Zeit Vollgas fahren müssen, um die Leistungsentwicklung zu vergleichen. Mal eine Minute, mal fünf, zehn, 20 oder 60 - und in allen Rubriken habe sich Politt um ein, zwei Prozent verbessert, sagt Lorang. Leistungssteigerungen im Radsport erzeugen in diesen Zeiten immer auch Fragen. Der Luxemburger begründet das damit, dass sich Politt im Team und bei seinem persönlichen Trainer Hendrik Werner sehr wohl fühle: "Das sind Dinge, die nicht messbar sind", sie spielten aber trotzdem eine große Rolle. Außerdem sei Politt mit 27 noch mitten in der natürlichen Leistungsentwicklung, den Peak erwartet er erst in zwei, drei Jahren.

So ähnlich argumentiert auch Politt, als er am Freitag in Nimes über seinen ersten Tour-Triumph spricht. "Das Team steht total hinter mir, es arbeitet total professionell, und das ist schon noch mal ein großer Unterschied zu den Teams, bei denen ich bisher war. Am Ende ist das das eine oder andere Prozent."

Ohne Sagans Ausstieg hätte Politt die Chance auf den Tagessieg wohl nicht bekommen

Dabei zeigte Politts Sieg auch, worauf es noch ankommen kann bei einem Tour-Etappensieg. Eigentlich waren bei Bora solche Abschnitte wie der nach Nimes für den Kapitän Peter Sagan vorgesehen. Doch der Slowake kam nach einem frühen Sturz gar nicht in Tritt - und stieg am Donnerstag vor der Etappe aus. Womöglich hätte Politt nie die Chance auf den Tagessieg bekommen, wenn Sagan im Rennen geblieben wäre. Für das Team aber war dies umso wichtiger.

Denn Bora hat zwar internationale Sponsoren, aber in der Vermarktung geht es für die Raublinger auch immer um deutsche Namen für den deutschen Kernmarkt - und das ist in diesem Jahr schwierig. Lennard Kämna, der im Vorjahr bei der Tour eine Etappe gewann, verzichtete aus gesundheitlichen Gründen, Allrounder Schachmann bereitet sich auf die Olympischen Spiele vor, und den Sprinter Pascal Ackermann ließ die Teamleitung zu Hause, weil die Form nicht passe. Kletterer Emanuel Buchmann wiederum gelangte nach seinem sturzbedingt missglückten Giro-Auftritt nur kurzfristig ans Frankreich-Ticket und tat sich bei den ersten Bergetappen noch schwer. Da blieb nur noch Politt als deutscher Etappenaspirant.

Der dürfte in der Hierarchie nun noch weiter aufrücken - egal ob der von anderen Mannschaften umworbene Sagan bleibt oder nicht. Angesichts seiner Leistungsentwicklung werde er bei den Klassikern einer der Kapitäne sein, sagt Trainer Lorang. Die Kopfsteinschlacht von Roubaix - Politts erklärtes Lieblingsrennen - ist Corona-bedingt 2021 auf Oktober vertagt. Das verändert den Trainingsaufbau, und das Team muss erstmal schauen, wie Politt die Tour übersteht. Aber der Kölner nimmt es schon einmal ins Visier. "Roubaix ist immer dick angemarkert", sagt Politt: "Wir werden es sehen. Ich habe ja noch ein paar Jahre Zeit."

Nur ganz so viele Anläufe wie zum Tour-Etappensieg sind auf dem Kopfsteinpflaster nicht möglich.

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