Tour de France:Ein Land dreht am Rad

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In großer Form: Der rackernde Thibaut Pinot, 29, verabscheut Hochgeschwindigkeiten angeblich so sehr wie andere Leute Spinnen. (Foto: David Stockman/dpa)
  • Die Franzosen fiebern mit ihren Landsleuten.
  • Julian Alaphilippe ist gerade der Held für den Moment. Doch es gibt auch noch Thibaut Pinot - und der ist vielleicht der Fahrer für die Zukunft.
  • Er könnte als erster Franzose seit 34 Jahren die Tour gewinnen.

Von Johannes Knuth, Nimes

Die Ruhe ist längst vorbei. In Nîmes drängen sie sich wieder vor das Hotel der französischen Equipe Groupama-FDJ, Fans im gepunkteten Bergtrikot, Eltern mit Kindern, fast jeder reckt ein Handy oder einen Fotoapparat in die Höhe. Aber mehr als einen flüchtigen Blick in die Lobby erhaschen sie diesmal nicht. Zwei Ordner wachen mit grimmiger Miene am Eingang, so sehen nur wenige, wie Thibaut Pinot, ihre große Hoffnung, später durchs Hotel huscht, ein stilles Lächeln auf den Lippen. Die Tour ist sonst ja noch immer sehr nahbar, fast nirgendwo erlebt man die Emotionen der Athleten so ungefiltert wie im Radsport - an den Bussen der Teams etwa, denen sich die Fans bis auf wenige Meter nähern dürfen. Auch das macht die Tour so reizvoll, das befeuert die Erzählungen. Es ist ja gerade mal eine Woche her, da schleppte Pinot sich in Albi ins Ziel, heulend vor Wut. Eine Woche?

Der kräftigste französische Anstrich seit Langem

16 Etappen ist diese 106. Tour de France mittlerweile alt, und schon jetzt steht fest: Die Rundfahrt trägt in diesem Jahr den kräftigsten französischen Anstrich seit Langem, was vor allem Julian Alaphilippe und eben Pinot geschuldet ist. Alaphilippe schulterte am Dienstag auf der Flachetappe rund um Nîmes ( die der Australier Caleb Ewan im Massensprint gewann) zwar noch immer das Gelbe Trikot und wird es auch am Mittwoch tun, zum 13. Mal dann bei dieser Tour. Wobei sein Vorsprung zuletzt geschmolzen war und wohl kaum bis zum Ende der schweren dritte Woche halten wird. Dafür war Pinot in den Pyrenäen zuletzt so stark, dass die Franzosen mitterweile sogar mit zwei Hauptdarstellern fiebern: mit einem für den Moment und einem, der den ersten Sieg der Gastgeber seit 34 Jahren an sich zerren könnte. Und was, wenn beide das Podium in Paris betreten? "Eine unglaubliche Hoffnung" sei das, wie die L'Équipe am Dienstag titelte.

Aber eine, die lebt.

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(Foto: A.S.O.)
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Es sei eine verrückte Tour, dichtete die Sportzeitung weiter; nicht mehr "der kleine Wind, der beim Grand Départ unsere Härchen auf der Haut gestreichelt hat." Dann folgerte das Blatt, offenbar, nun ja, inspiriert von der Hitze, die gerade durch Frankreich rollt: "Die Tour ist ein Tropensturm geworden, der unsere trockene Haut weghobelt wie Parmesan." Alaphilippe ist ein Grund dafür, er fährt noch immer so, wie er sich fühlt, und fühlt sich, wie er fährt - wenn er etwa mit offenem Mund die Anstiege hinaufstapft, als wolle er es alleine mit einer Büffelherde aufnehmen. Erst am Sonntag, im fünften Anstieg in den Pyrenäen, die eigentlich viel zu schwer sind für einen Klassikerexperten wie ihn, ließ er die Besten entwischen. "Wenn ich das Gelbe Trikot abgeben muss, dann hoffentlich an Thibaut", sagte der 27-Jährige, als sei sein Schicksal schon besiegelt.

Und Pinot? Am Montag vor einer Woche riss Seitenwind das Feld auf einer Flachetappe entzwei, Pinot verlor 1:40 Minuten auf die Klassementfahrer, darunter Titelverteidiger Geraint Thomas und Emanuel Buchmann. Er fuhr mit Tränen in den Augen ins Ziel, doch die Emotionen verkehrten sich bald ins Gegenteil, wie so oft in seiner Karriere: Er gewann am Tourmalet, sein Teamchef Marc Madiot brüllte so laut vor Aufregung, als werde er gerade von Skorpionen gebissen. In Foix schüttelte Pinot am letzten Berg nach und nach alle Favoriten ab, im Klassement liegt er jetzt 1:50 Minuten hinter Gelb; 15 Sekunden nur hinter Thomas, dem Zweiten, dem er in den Pyrenäen fast zwei Minuten abknöpfte. "Ich bin wieder auf Kurs", sagte Pinot, "aber wenn ich im Radsport eines gelernt habe, dann dass sich die Dinge schnell ändern." Am Dienstag stürzte der Mitfavorit Jakob Fuglsang aus Dänemark und gab die Tour auf - Verdacht auf Schlüsselbeinbruch.

Pinot fuhrt 2012 seine erste Tour, er gewann prompt eine schwere Bergetappe im Jura-Gebirge. Er wurde 2014 schon Dritter im Klassement, kletterte 2015 als Erster hinauf nach Alpe d'Huez. Er kam schon immer gut die Berge hinauf, attackierte, wann es ihm gefiel, aber irgendetwas hielt ihn immer von Größerem ab. Mal war es seine Schwäche im Zeitfahren oder in den Abfahrten im Gebirge - er hasse die Hochgeschwindigkeit so sehr wie andere Spinnen verabscheuen, sagte er mal. Immer wieder schwächten ihn Krankheiten, Fieber, Bronchitis, Angina. Aber statt mit seiner Wut im Kreis zu rennen, arbeitete er an seinen Schwächen. "Ich habe eine zu frustrierende Karriere", sagte er der L'Équipe vor der Tour, "ich weiß, dass eines Tages etwas passieren wird, dass all das Pech auslöschen wird."

Vielleicht ja tatsächlich in diesem Jahr. Der 29-Jährige ist in großer Form, und diesmal dominiert keine Equipe das Tempo, wie zuletzt die Briten von Ineos. Das macht es leichter für einen impulsiven Fahrer wie Pinot. Sein Team säubert diesmal sogar jeden Tag den Bus und die Hotelzimmer, um bloß nicht wieder von einem Infekt geschwächt zu werden.

"Habe ich Lust, mein Leben zu ändern? Nein"

Pinot hat sich seinen Erfolg immer erarbeiten müssen, und das macht seinen Aufstieg durchaus nachvollziehbar. Die Zeit, die er den Tourmalet hinauf benötigte, war stark, aber nichts gegen die fiebrigen Ritte von Andy Schleck und Alberto Contador aus den dopingumwitterten Nullerjahren. Wobei Groupama-FDJ vor der Tour auch von der Operation Aderlass betroffen war, Pinots Helfer Georg Preidler wurde als Kunde des Erfurter Blutdoping-Rings enttarnt. "Ich musste Tränen verdrücken, für mich ist das Hochverrat", sagte Pinot später.

Die größere Herausforderung, neben dem Verdacht, wird wohl der Trubel sein, sollte er die Tour tatsächlich gewinnen. Pinot hat sich in Mélisey, seiner Heimat in der Haute-Saône, einen Bauernhof am See gekauft, er versorgt dort Ziegen, Schafe und Kühe, die Ruhe helfe ihm beim Abschalten. "Sollte ich die Tour de France gewinnen, könnte ich nicht mehr dieses Leben führen. Habe ich Lust, mein Leben zu ändern?", fragte Pinot vor der Tour. Dann sagte er: "Nein."

© SZ vom 24.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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