Tour de France:Frankreich staunt über den "Bulldozer"

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Gewann schon drei Etappen bei der diesjährigen Tour de France: Sprinter Marcel Kittel. (Foto: Getty Images)
  • Marcel Kittel gewinnt drei Etappen, bora-hansgrohe feiert einen Sieg: Deutsche Fahrer und Teams prägen die erste Woche der Tour de France.
  • Die Rad-Fans jubeln zwar wieder, ein Rest Misstrauen bleibt aber.

Von Johannes Knuth, Nuits-Saint-Georges

Die Chronisten des Radsports waren stets geübt darin, den deutschen Profis einfühlsame Spitznamen zu verschaffen. Dietrich Thurau, der blonde Engel. Tony Martin, Le Panzerwagen, unaufhaltsam im Zeitfahren. Derzeit fordert der Sprinter Marcel Kittel, 1,88 Meter, 86 Kilo, die Fantasie der Reporter heraus. L'Équipe beschrieb den 29-Jährigen jüngst als "Bulldozer", nachdem Kittel das Feld in Troyes zum zweiten Mal bei dieser Tour im Spurt, nun ja, planiert hatte.

Vielleicht, hoffte das Blatt, gelinge es Frankreichs Hoffnung Arnaud Démare ja am Freitag, "den deutschen Möbelpacker abzusägen". Aber dann gewann Kittel auch in Nuits-Saint-Georges, hauchdünn vor dem Norweger Edvald Boasson, schulterte auch wieder das Trikot des Punktbesten. Ob man ihn nicht längst als "König des Sprints" anreden müsse, wurde Kittel von einer britischen Reporterin gefragt? Nö, sagte er, "Sie können weiter Marcel sagen".

Die Tour de France war in den vergangenen Jahren öfters eine Tour d'Allemagne, weil die Bulldozer und Panzerwagen aus Deutschland manche Etappen gewannen. Aber diesmal glänzt der schwarz-rot-goldene Anstrich noch heller, nach der ersten Woche. 2,5 Millionen Zuschauer beim Grand Départ in Deutschland. Kittel, der Möbelpacker, gewinnt drei Etappen. Zwei deutsche Teams sind dabei, Sunweb, das niederländisch gefärbt ist, aber auch deutschen Fahrern Unterschlupf bietet. Und Bora-hansgrohe, der Aufsteiger aus Oberbayern, der dank Peter Sagan seine erste Etappe bei der Tour gewann, ehe Sagan einen Tag später wegen eines mutmaßlichen Remplers verstoßen wurde.

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Die deutschen Fahrer badeten jedenfalls in Genugtuung; die Zuschauer hatten ihnen nach den Dopingbeben vor fünf, sechs Jahren in der Heimat noch Schilder mit Epo-Spritzen darauf entgegengehalten. Eine Zündung sei diese Woche, befand Kittel, aber man müsse weiter an der Glaubwürdigkeit arbeiten, weiter gewinnen. Was gar nicht so einfach ist, weil mit der Aufmerksamkeit die Erwartungen wachsen. Kittel wurde zuletzt immer wieder gefragt, wann er Erik Zabels Rekord breche, die zwölf deutschen Tour-Siege, die er nun egalisiert hat. "Das ist eine schöne Situation", sagte Kittel, zart genervt, "aber dafür fahre ich nicht Rennen." Er fahre einfach für die Momente, wie in diesen Tagen in Frankreich.

Kittel hat sich stets als Werbebotschafter einer neuen Generation verstanden

Es ist immer noch gar nicht so einfach, ein deutscher Radprofi zu sein. Deutschland war mal ein Jan-Ullrich-Land, aber wenn die Frühjahrsklassiker anstanden, interessierte das oft nur ein Fachpublikum. "Das deutsche Volk ist schon ein bisschen gepolt auf Helden", sagt Boras Teamchef Ralph Denk, und das ist gewissermaßen ein bisschen untertrieben.

Die Franzosen etwa, die verehren auch den Radfahrer Raymond Poulidor, der dreimal Zweiter bei der Tour wurde, nie das Gelbe Trikot trug. Die Deutschen sollen nicht scheitern, schon gar nicht knapp, sie sollen vollendet sein. Und wo ginge das besser als bei der Tour? Nirgendwo kann ein Fahrer so sehr dem Gewöhnlichen entfliehen wie bei dieser dreiwöchigen Schinderei, in Massensprints bei 37 Grad, Bergankünften im kalten Regen. Dabei waren die Abgründe meist genauso tief wie der Mont Ventoux hoch ist. Sportler sollen Vorbilder sein, aber oft sind Sportler die Letzten, die zum Vorbild taugen, nicht nur bei der Tour.

Andererseits: Das deutsche Radsport-Publikum hat sich offenbar emanzipiert. Es schenkt den Kittels, Martins und Degenkolbs wieder Zuneigung, aber es glaubt nicht, dass es nur noch "Einzelfälle geben wird", im Sport ansonsten nicht mehr systemisch betrogen werde, wie Justizminister Heiko Maas in Düsseldorf irrlichterte.

Auch Kittel hat sich stets als Werbebotschafter einer neuen Generation verstanden, die sich aus den Trümmern der Ulle-Jahre hob. Er echauffierte sich über Alberto Contador, den Tour-Sieger und Dopingsünder. Er stimmte nicht ein in die Larmoyanz derjenigen, die den Radsport für übertrieben kritisiert wähnen: "Dass das große Thema Doping angesprochen werden muss", hat er mal gesagt, "muss so sein."

Eine Erblast quasi. Kittel ist auch keiner, der nur den Radsport hat, wie einst Ullrich. "Ich will die Zeit im Radsport professionell betreiben, aber ich will sie auch genießen." Er achte sehr darauf, das Private nicht zu vernachlässigen. Sagan, der zweimalige Weltmeister, seit diesem Jahr bei Bora angestellt, befand in Düsseldorf: "Ich fahre, um Spaß zu haben. Wenn du zu viel willst, kannst du auch eine Menge verlieren."

Manchmal kann es gesünder sein, in vielen kleinen Schritten zum Ziel zu kommen als in wenigen großen, Ralph Denk kann einiges davon erzählen. Boras Teamchef hatte nicht das Zeug zum Profi, er gründete also seine eigenen Teams, um seinen Fahrradladen in Raubling zu bewerben: 2007 ein Juniorenteam, Jan Ullrich war gerade aufgeflogen, 2010 stieg Denk bei den Erwachsenen ein. "Da hat man Radsport mit Doping gleichgesetzt, man hat uns vor allem in Deutschland kaum zugehört", erinnert er sich.

Die ersten Jahre musste er im August oft rechnen, ob er sich die Dezembergehälter noch leisten kann. Langsam ging es voran, 2014 wurden sie erstmals zur Tour eingeladen - als erstes deutsches Team seit 2010. "Ich habe einen festen Glauben gehabt", sagt Denk heute, "weil es ein Sport ist, der auch durch schlimmste Doping-Enthüllungen nicht kaputtgeht. Die Leute üben ihn nun mal selbst gerne aus in der Freizeit", glaubt er.

Denk hat seinen Fahrradladen vor zwei Jahren verkauft. Sein neues Büro liegt auf der anderen Straßenseite, im achten Stock des Hauptsponsors, einem Küchenhersteller. An schönen Tagen sieht man die Alpen. Im Winter verpflichtete er Sagan, andere Teams galten als lohnenderes Ziel, aber Denk verstand, dass es bei Sagan weniger ums Radfahren ging, sondern um den Menschen, der eine kleine Wohlfühloase suchte.

Bora fährt seit diesem Jahr in der World Tour, der höchsten Liga des Sports, das Budget liegt im mittleren zweistelligen Millionenbereich, sie beschäftigen 80 Mitarbeiter, doppelt so viele wie vor einem Jahr: Mechaniker, Köche, Trainer, die Ernährung, Material und Trainingslager optimieren. "Viele kleine Punkte, die irgendwann einmal ein großer Punkt werden", sagt Denk. Das klingt ein wenig nach den marginal gains, die das Team Sky predigt, auch wenn die von Zweifeln umwehten Briten vielleicht nicht die beste Referenz sind.

Wie viel hängen bleibt von dieser deutschen Tour? Schwer zu sagen. Auch weil der Sport in der Dopingfrage noch oft schwach auftritt, mit vielen Recken aus der Hochdopingära, die bis heute die Fahrer anleiten. "Ich würde es begrüßen, wenn mehr kommen, die nicht aus der Ära stammen", sagt Denk. "Es ist ein schleichender Prozess." Wie seine Vision, "irgendwann das beste Team der Welt zu haben", die Tour zu gewinnen. Das wird das nächste spannende Experiment: Wie ein germanisch gefärbter Sieg aufgenommen wird in einem Milieu, in dem die größten Leistungen noch immer die größten Zweifel auf sich ziehen.

© SZ vom 08.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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