Radsport:Die Tour de France wehrt sich - noch

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Es ist kaum vorstellbar, dass das Tour-Peloton nach den jüngsten Entwicklungen am 27. Juni in Nizza planmäßig losrollen kann. Oder doch? (Foto: Gonzalo Fuentes/Reuters)
  • Die Tour de France gehört zu den wenigen Sport-Großveranstaltungen, die trotz der Corona-Pandemie noch wie geplant stattfinden sollen.
  • Frankreichs Sportministerin brachte jüngst die Idee einer Rundfahrt ohne Zuschauer ins Spiel.
  • Prominente Fahrer wie John Degenkolb oder Thibaut Pinot sagen indes, dass andere Dinge derzeit wichtiger seien.

Von Johannes Knuth, München

Man tritt Christian Prudhomme, dem Direktor der Tour de France, nicht zu nahe, wenn man ihm ein durchaus stabiles Selbstbewusstsein attestiert. Und so überraschte es kaum, als der 59-Jährige vor zwei Wochen eine gewagte These in die Radsport-Welt setzte, die ihm bald noch mächtig auf die Füße plumpsen könnte. Nur Kriege hätten die Tour de France bislang ausbremsen können, verkündete Prudhomme am 11. März im französischen TV entschlossen - als werde man dieses lästige Coronavirus schon noch irgendwie abschütteln wie einen entkräfteten Wasserträger auf einer der branchenüblichen Bergetappen der Tour. Drei Tage später hob die Welt-Gesundheitsorganisation die Krankheit in den Stand einer Pandemie.

Tatsächlich ruhte die große Schleife, der 1903 ihr Dasein eingehaucht wurde, bislang nur während der Weltkriege. Aber die Tour, größer als eine globale Seuche?

Der Sommer 2020 war mal als gewaltiges Sportjahr geplant, mit der Fußball-EM und den Olympischen Sommerspielen als größte Attraktionen. Mittlerweile ist der Kalender aufgrund der Corona-Pandemie fast leergefegt. Nur ein paar Nationalheiligtümer wehren sich noch gegen eine Absage, mal weniger (Wimbledon), mal mehr (Tour de France). Letztere firmiert immerhin als drittgrößtes Sportereignis weltweit, was Interesse, Sponsoren- und TV-Quoten betrifft, hinter der Fußball-WM und den Sommerspielen. Die Spiele sollten ursprünglich kurz nach der Tour im kommenden Juli starten - ehe sie zuletzt hastig ins nächste Jahr geschoben wurden, wie die Fußball-EM. Da ist es kaum vorstellbar, dass das Tour-Peloton noch wie geplant am 27. Juni in Nizza losrollen kann. Oder etwa doch?

Die Frühjahrsklassiker wurden bereits vertagt

Die Tour ist nicht nur der größte Hingucker im Radsport-Kalender, sie ist Herz, Lunge und Seele der Szene. Bei der Tour schaut die halbe Welt zu, darauf bauen alle Sponsoren, die die Teams das ganze Jahr über finanzieren. Die Rundfahrt ist auch ein gewaltiger Marktplatz, Marktwerte der Fahrer schnellen rauf und runter wie Aktien. Teamchefs, Agenten und Sponsoren feilschen um Verträge fürs nächste Jahr. "Wenn es keine Tour gibt, kann das ganze Modell des Radsports zusammenbrechen", sagte Patrick Lefevere, der schlachterprobte Eigentümer der belgischen Quick-Step-Equipe, zuletzt der Zeitung Het Nieuwsblad: "Da mehrere Teams bereits unter dem Druck stehen, Sponsorengelder für 2021 zu finden, wird die Aufgabe im Falle einer Absage nur noch schwieriger."

Lefevere führte an, dass sein Team in der Pandemie bislang 500 000 Euro verloren habe; die Frühjahrsklassiker, bei denen seine Fahrer oft auftrumpfen, wurden zuletzt ebenfalls vertagt: von Paris - Roubaix über Mailand - Sanremo bis hin zum Giro d'Italia. Sollten die Rennen ganz ausfallen, dürften auch viele Zulieferer schwer leiden: Italiens Sportzeitung Gazetta dello Sport ist ebenso eng mit ihrer heimischen Rundfahrt verflochten wie Frankreichs L'Equipe mit der Tour, die wie die Zeitung dem Amaury-Konzern gehört.

Velon, ein Zusammenschluss diverser Profiteams, verkündete zuletzt zwar, dass man ab dem 22. April eine digitale Rennserie auflegen werde: mit mehreren Etappen, bei denen sich die Profis von ihren Home-Trainern aus einwählen können und einen regulären Wettstreit bestreiten. Aber ob das eine ganze Branche rettet?

Es ist jedenfalls schwer vorstellbar, wie die analoge Tour in diesem Sommer über die Bühne rollen soll: über drei Wochen und mehr als 3000 Kilometer, mit rund zehn Millionen Zuschauern an der Strecke und Tausenden in den Etappenstädten. Das Coronavirus hat auch Frankreich im Griff; die Tour wäre in diesem Juli, in dem noch kein Impfstoff zur Verfügung stehen soll, zumindest in ihrer ursprünglichen Fassung eine gewaltige Virenschleuder.

Doch wenn es um die Tour geht, ist sogar Frankreichs Politik (noch) kulant: "Es ist von größter Bedeutung, dass diese Veranstaltung durchgeführt werden kann", sagte Sportministerin Roxana Maracineanu zuletzt im französischen Radio - und brachte eine Rundfahrt ohne Zuschauer ins Spiel. Die Tour, sagte die Ministerin, hänge ja nicht am Tropf der Ticketeinnahmen, wie andere Sportevents; sie lebe davon, dass das Fernsehen übertrage: wegen der TV-Einnahmen und der Bilder, die immer auch ein wenig einem Tourismus-Werbefilm gleichen.

Nur: Wie sperrt man Millionen Zuschauer von einem Ereignis aus, das in Frankreich Jahr für Jahr wie ein dreiwöchiger Nationalfeiertag zelebriert wird?

Das Modell der Geisterrundfahrt hatte schon bei der jüngsten Fernfahrt Paris - Nizza kaum gezündet. Start- und Zielbereiche waren für die sonst so kontaktfreudigen Radsportfans zwar gesperrt, viele pilgerten trotzdem an den Streckenrand. Viele Radprofis, darunter der deutsche Sieger Max Schachmann, waren von dieser Konstellation nur mäßig angetan.

"Es stehen im Moment wirklich wichtigere Dinge auf der Agenda", sagte auch der deutsche Profi John Degenkolb zuletzt im ZDF; er fügte an: "Wenn man die Tour de France absagen muss, um die Pandemie einzudämmen, ist das die absolut richtige Entscheidung - so bitter das auch für den Einzelnen ist." Lotto-Soudal, Degenkolbs neuer Arbeitgeber, teilte am Wochenende übrigens mit, dass er 25 Mitarbeiter entlassen musste, die er bislang freiberuflich an sich gebunden hatte: Mechaniker, Physiotherapeuten, Busfahrer. Die festangestellten Mitarbeiter der belgischen Equipe sowie alle 27 Fahrer verzichten mittlerweile auf Teile ihres Gehalts.

Selbst in Frankreich ist manchen klar, dass ihr Nationalheiligtum nicht unter Denkmalschutz steht: "Radfahren ist derzeit komplett nebensächlich", befand der Franzose Thibaut Pinot: "Es gibt wirklich wichtigere Dinge, als zu wissen, ob die Tour dieses Jahr gestrichen oder verschoben wird." So wie Pinot können derzeit auch viele Radprofis nur alleine trainieren, manche nur auf der Radsport-Rolle im eigenen Domizil. Die Dopingkontrollen sind weltweit ohnehin nahezu kollabiert.

Der TV-Sender RTBF, der die Tour in Belgien überträgt, vermeldete am Wochenende, dass die Tour-Organisatoren die Lage bis Anfang Mai sondieren wollen - und dann entscheiden. Das Medium berief sich auf zwei Bürgermeister, deren Gemeinden die diesjährige Tour beherbergen würden.

Und so droht der Rundfahrt ein ähnliches Szenario wie den Olympischen Spielen in den vergangenen Wochen: Eine Branche zittert um ihr Geschäftsmodell, Funktionäre spielen auf Zeit - und die Sportler sind diejenigen, die noch am ehesten Umsicht beweisen.

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