Tour de France am Tourmalet:Bei den wilden Bären

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Eine Qual, die die Augen verdreht: Jens Heppner beim Aufstieg am Col du Tourmalet im Jahr 1995 – in einer Zeit also, in der nicht wenige auf leistungssteigernde Mittel zurückgegriffen haben. (Foto: Bürhaus/Imago)
  • Die Tour de France erklimmt heute den legendären Tourmalet. Das Rennen geht damit in seine entscheidende Phase.
  • 1910 war der Berg der erste im Programm der Tour. Er wurde nur dank einer Notlüge überhaupt überfahren.
  • Seitdem ranken sich Mythen und Legenden um den am häufigsten befahrenen Hochgebirgspass der Tour.

Von Johannes Knuth, Pau

Was wäre das gewesen, wenn die heutigen Radsport-Knigge, diese oft ungeschriebenen Gebote des Pelotons, schon vor 100 Jahren bei der Tour de France gegolten hätten: Bier- und Weinflaschen, die das Publikum den Fahrern zusteckt, bitte nur in der vorgeschriebenen Zone entsorgen! Nicht im Straßengraben! Auf der letzten, zeremoniellen Etappe über 340 Kilometer wird der Gesamtführende nicht mehr attackiert! Und wenn der Führende auf den Etappen davor sein defektes Rad in einer Schmiede kurz hinter dem Tourmalet zusammenflicken muss, so wie es Eugène Christophe 1913 widerfuhr - eh bien, dann herrscht im Hauptfeld natürlich Waffenstillstand! Auch wenn die Reparatur schon mal drei Stunden dauert.

Es gibt diese Geschichten im Sport, die so sehr ausgeschmückt und auf Übergröße aufgepumpt werden, dass sie sich irgendwann ins Mythische verkehren, und bei der Tour wurden diese Legenden fast immer in den Bergen erschaffen: Auf dem erhabenen, weil so ewig langen wie hohen Galibier in den Alpen. Oder in den Party-Kehren von Alpe d'Huez. Oder dem Mont Ventoux, der sich in einen gigantischen Gedenkstein verwandelte, als der mit Aufputschmitteln vollgepumpte Tom Simpson dort 1967 tot umfiel. Und dann ist da eben der raue Tourmalet in den Pyrenäen: 2115 Meter hoch, am Samstag steht er zum 83. Mal im Programm der Tour, häufiger als jeder andere Pass. Die Fahrer müssen diesmal 19 Kilometer und 1410 Höhenmeter bis zum Gipfel erklimmen, es soll wieder ein Spektakel werden, im Kampf um das Klassement und überhaupt.

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Und so schnurrt gerade wieder mal alles zusammen, Gegenwart und Historie. Es war ja am Tourmalet, wo sich vor 106 Jahren Eugène Christophes Auftritt in der Schmiede ereignete, und es war wiederum Christophe, der sechs Jahre später als allererster Fahrer ein Gelbes Trikot anlegte, das gerade seinen 100. Geburtstag begeht. Was läge da näher für die Tour, als die alten Geschichten diesmal noch ein bisschen kräftiger zu besingen? Zumal damals noch alles ein wenig rauer, purer, und ja, einfacher war als heute. Oder nicht?

Der Tourmalet war der erste Pass im Hochgebirge, den sie bei der Tour je überquerten, 1910 war das, in den Pyrenäen hausten noch wilde Bären. Henri Desgrange, der die Tour damals eisern lenkte, hatte seinen Adjutanten Alphonse Steines zuvor beauftragt, den Pass zu inspizieren - angetrieben vom Wunsch, das Rennen besser zu bewerben. Was in dem Fall hieß: Es zu einer grausamen Qual zu machen. Steines blieb drei Kilometer vor dem verschneiten Pass jedenfalls mit dem Auto stecken, er kämpfte sich zu Fuß weiter und hätte wohl kaum überlebt, wenn Polizisten ihn nicht gefunden hätten. Später kabelte er an seinen Chef: "Bin gut über den Tourmalet gekommen. Stop. Straße in gutem Zustand. Stop. Keine Schwierigkeiten für die Fahrer."

Man könnte auch sagen: Alles begann mit einer Lüge.

Eugène Christophes denkwürdiger Moment kam drei Jahre später. Er war gelernter Schlosser, bei der Tour 1913 war er einer der Stärksten. Als die Fahrer am 9. Juli um drei Uhr morgens aufbrachen - vor ihnen 326 Kilometer und sieben (!) Gipfel -, lag er vier Minuten hinter dem Führenden, und am Tourmalet war er allen schon so weit enteilt, dass er im Klassement mit 18 Minuten führte. Und dann: Brachen in der Abfahrt die Radgabeln, stand Christophe allein in den Bergen, in denen damals die Bären hausten. Materialwagen gab es nicht, fremde Hilfe war untersagt. Und die Verfolger sausten bald alle an ihm vorbei, niemand wartete, während Christophe sich zu Fuß die zehn Kilometer bis nach Sainte-Marie-de-Campan schleppte, das Fahrrad auf der Schulter. Als er das Dorf erreichte, führte ihn ein Mädchen zur Schmiede: "Ich hab' so sehr geweint", erzählte er später, "ich konnte nichts mehr sehen."

Nach drei Stunden in der Schmiede fuhr Christophe wuterfüllt weiter. Er hatte sein Rad alleine zusammengeflickt, aber ein Junge hatte mit dem Blasebalg Luft zugefächert - die Regelhüter, die in der Schmiede alles überwacht hatten, brummten Christophe drei Strafminuten auf. Die Tour war natürlich längst verloren, er wurde später Siebter. 1919 war er der erste Fahrer, der das Gelbe Trikot trug, weil Desgrange den Führenden für die Zuschauer besser sichtbar machen wollte. Aber Christophe war genervt, die Zuschauer verspotteten ihn als "Kanarienvogel". Er trug das Trikot, das heute so sehr begehrt ist, jedenfalls nie bis nach Paris, immer wieder erlitt er Defekte, 1922 am Galibier. Es waren auch diese Leidensgeschichten, die sich Desgrange durch die Expansion in die Berge erhofft hatte, und viele sollten noch folgen: Von den Alleingängen von Merckx und Armstrong bis zu den Duellen von Ullrich und Pantani, die auf den Giganten unter den Bergen selbst zu Giganten verklärt wurden, später oft den Halt im Rennen verloren, manchmal auch im richtigen Leben.

14 Kilometer bis zur nächsten Schmiede – zu Fuß: Tour-Teilnehmer Eugene Christophe 1913. (Foto: Sirotti/Imago)

Wenn man heute zum Ort der Schmiede aufbricht, türmen sich die Pyrenäen bald wie ein riesiger Märchenwald in der Ferne auf, das humide Klima lässt viele Gipfel ergrünen. Das graue Haus, in dem früher die Schmiede untergebracht war, liegt noch immer am Ortseingang an der linken Seite, eine Plakette über braunen Fensterläden erinnert an Christophe, der hier "die Tour einst verlor, aber eine formidable Lektion in Mut und Hartnäckigkeit" an den Tag gelegt habe. Im Zentrum von Sainte-Marie-de-Campan, wacht sogar eine Staute von Christophe, gleich neben dem "Eugène-Christophe-Platz". Der Strauß mit Sonnenblumen zu seinen Füßen ist noch frisch. Die meisten Hobbyradler lassen die Statue liegen, links geht es rauf zum Tourmalet, ein paar lassen sich davor fotografieren. "Hier hat die Geschichte die Legende der Tour geschmiedet" steht auf dem Sockel, daneben ein etwas bodenständigeres Zitat Christophes: "Man gibt nie auf, was man begonnen hat." Sein gusseisernes Double reckt eine Hand in die Höhe, als hätte er die Tour gerade gewonnen. Die Franzosen feiern die knapp Gescheiterten fast so sehr wie die Sieger.

Das war auch früh angelegt im Erbgut der Tour: dass es immer weiterging, irgendwie. Auch wenn damals noch niemand so recht fragte, wie das zustande kam. Tatsächlich testeten die Fahrer längst, wie sie ihre Körper fit kriegen konnten für die damals noch 5000 Kilometer lange Qual - aus Verzweiflung. "Ihr seid Mörder! Ja, Mörder!", soll Octave Lapize den Organisatoren entgegengeschrien haben, als er sich 1910 als Erster über den Tourmalet schob. Aber dann ging es doch weiter. Die Tour, schrieb der einstige Radsport-Trainer Antoine Vayer vor Kurzem in der Le Monde, "badet gerne in romantischen Erzählungen. Auch, um das Rennen heute als ein vertrauenswürdiges Epos zu verkaufen."

Die Profis? Verlieren sich selten in diesen Geschichten. Berg ist Berg, fand Maximilian Schachmann zuletzt, der 25-jährige Berliner, der am Freitag aber sturzbedingt ausschied. Und man musste ihm diese karge Demut wohl nachsehen. Es war seine erste Tour - und er hatte ein paar gute Argumente parat: Ihn interessiere nur, wie lang und steil ein Berg sei, die Kraxelei sei ja eh schwer genug: "Vielleicht verliert man als Profi da eine gewisse Begeisterung."

Anmerkung d. Red.: In einer früheren Version des Artikels stand, dass die Schmiede einst in der Ortsmitte stand und heute durch ein Denkmal ersetzt wurde. Richtig ist, dass das Gebäude, in dem die Schmiede einst untergebracht war, weiterhin am Ortseingang existiert und das Denkmal im Ortskern später erbaut war.

© SZ vom 20.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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