Die Nacht sei eigentlich ganz ordentlich gewesen, "mal nicht so heiß, ich hab' gut geschlafen", sagt Tony Martin. Allerdings wäre er gern länger liegengeblieben, "doch die Kontrolleure waren da, um acht Uhr, das war hier schon das vierte Mal bei mir". Martin ist jedoch keiner, der sich darüber beklagt, zumindest nicht öffentlich, "begeistert bin ich natürlich nicht", sagt er eine Viertelstunde vor dem Start der nächsten Pyrenäenetappe. "Aber es muss halt sein." Immer noch lässt ja nicht jeder Radprofi das Prozedere mit Einsicht über sich ergehen, Lance Armstrong etwa amüsiert sich stets mit texanischem Zynismus in seinen Internet-Mitteilungen, wenn sie ihn mal wieder behelligt haben. Martin hingegen scheint zu verstehen, dass er hier bei der Tour de France bisher nicht nur das Weiße Trikot des besten Nachwuchsfahrers erobert hat - dass die gesteigerte Aufmerksamkeit der Kontrolleure auch eine Auszeichnung seiner Klasse ist, muss man ihm nicht erklären.
Die Pyrenäen liegen hinter dem Tourdebütanten Martin, 24, und nicht nur am Freitag in Arcalis hielt der junge Deutsche beharrlich das Hinterrad der Besten. Beim US-Team Columbia haben sie auf die erstaunliche Vorstellung des im hessischen Eschborn lebenden Talents reagiert - und ihn intern zum Kapitän ernannt. "Tony ist jetzt derjenige bei uns, der beschützt wird", betont Valerio Piva, einer der Sportlichen Leiter. Und Teamchef Rolf Aldag mag einschränken, der eigentliche Kapitän Kim Kirchen werde "ebenfalls unterstützt". Doch der Luxemburger ist eben derzeit mehr als zwei Minuten hinter dem Gesamtsiebten Martin notiert, der nach seiner Premierenwoche in Frankreich nur 60 Sekunden Rückstand auf das Gelbe Trikot aufweist.
Auf den ersten Blick zeigt Tony Martin gerade eine Frühreife, die es zu hinterfragen gilt. Vor dem Start in Monte Carlo hatte er ja selbst noch gesagt, Columbias lange Erfolgsserie des Frühjahrs rufe "natürlich einige Gerüchte hervor", sei aber vor allem ein Ergebnis des Teamgeistes. "Doch wenn wir bei der Tour auch noch in der Gesamtwertung vorn sind, wäre das echt beängstigend." Jetzt ist er selbst vorn dabei, bei seiner erst zweiten dreiwöchigen Rundfahrt nach dem Giro 2008. Und sagt: "Dass es jetzt zur absoluten Spitze reicht, Contador mal ausgenommen, das hätte ich nie gedacht."
Kein Bodyguard, kein Manager
Wer dieser Hoffnung des deutschen Radsports trotzdem eine Chance geben möchte, der könnte auf den zweiten Blick auch zu der Einschätzung kommen, dass hier ein intelligenter junger Mann gerade die ersten Ergebnisse einer klugen Entwicklung einfährt. Der Westfale Aldag, 41, Martins erster Ansprechpartner in der international ausgerichteten Columbia-Mannschaft, kann sich zumindest noch gut erinnern an die Regio-Tour 2005, als Martin auf dem Kandel im Schwarzwald gewann: "Er war geschätzte zwölf Jahre alt, und ich kam kaum mit - seitdem war jedem klar, dass aus dem was wird."
T-Mobile, der an den zahlreichen Enthüllungen zugrunde gegangene Ex-Rennstall Aldags, aus dem letztlich Team Columbia entstand, sicherte sich gleich einen Vorvertrag bei Martin. Doch der bevorzugte es, nach dem Schnupper-Aufenthalt als Amateur bei Gerolsteiner weitere zwei Jahre für eine unterklassige Thüringer Nachwuchsequipe zu fahren.
Denn Tony Martin wollte nach dem Abitur seine vierjährige Ausbildung zum Polizeimeister nicht abbrechen, im Frühjahr 2008 absolvierte er die letzten Prüfungen. Martin hat dazu erklärt, er habe nicht nur auf Radsport setzen wollen. "Denn der Druck, Geld verdienen zu müssen, begünstigt den Weg ins Dopingsystem." Auch ansonsten lässt sich Martin nicht beirren, ebenfalls nicht vom Trubel, der ihm in Frankreich begegnet. Er braucht keinen Bodyguard, obwohl ihn die Menschen sehr bedrängen. Und Martin hat auch keinen Manager, er lässt sich Tipps geben von Jörg Werner, 38, dem Leiter seines früheren Thüringer Continental-Teams, aus dessen Umfeld er auch seinen Trainer Jens Lang kennt. In Erfurt hat Martin die Sportschule besucht und immer noch ein WG-Zimmer; er trainiert öfter auf den speziellen Laufbändern der Einrichtung, auf denen sich beispielsweise Prologe simulieren lassen.
Zeitfahren liegt ihm
Bis zu dieser Saison hat Martin allerdings noch gar nicht gewusst, was genau mal aus ihm werden sollte. Aldag sagte ihm im Winter: "Du kannst mal Paris - Roubaix gewinnen!", 2008 hatte ihn Columbia zu ersten Bewährungsfahrten bei den Kopfsteinpflaster-Rennen entsandt. Doch Martin entgegnete: "Will ich nicht, dort krieg ich einen Nervenzusammenbruch!" Martin beschied, er wolle Rundfahrer werden.
Zeitfahren liegen ihm ja, beim Giro 2008 ist einmal Zweiter gewesen und später auch letzter Etappengewinner der nicht mehr bestehenden Deutschlandtour. Und dass die Kraft der mächtigen Oberschenkel fürs Gebirge reicht, nachdem er deutlich an Gewicht verlor, belegte Martin zuletzt als überraschender Zweiter der Tour de Suisse.
Rolf Aldag findet, das alles spreche für einen glaubwürdigen Aufstieg, "das hoffe ich jedenfalls". Columbia verlängert auch deshalb mit Martin, "sein Vertrag gilt bis 2010, aber verbal sind wir uns auch für 2011 einig". Ein Wort im Radsport, und das zählt etwas? Aldag lacht, er sagt. "Bei Tony Martin schon, da bin ich mir ganz sicher."