Tony Martin gewinnt Zeitfahr-Gold:Trost für die gequälte Seele

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Der Olympia-Zweite Tony Martin gewinnt bei der Straßenrad-WM erneut das Zeitfahren und entschädigt sich damit für einen ersten Saison-Abschnitt voller Pech und verfehlter Ziele. Martins Bilanz bleibt trotzdem zwiespältig.

Ulrich Hartmann, Valkenburg

Tony Martin raste den Rijksweg entlang. Das Schlusstück des Kurses ging nur noch geradeaus. Es sah ganz einfach aus. Eineinhalb Kilometer ungebremsten Spurts, um am Ende doch noch alles gut werden zu lassen: ein schwieriges Zeitfahren, eine bedeutsame Weltmeisterschaft, ein ganzes verkorkstes Jahr.

Bei Olympia Zweiter, bei der WM ganz oben: Tony Martin verteidigt seinen Titel im Zeitfahren.  (Foto: dpa)

Und Tony Martin raste ins Glück. "Aber der Schlussspurt war einer der härtesten in meiner ganzen Karriere", sagte er später mit gequältem Gesicht. Knapp fünfeinhalb Sekunden schneller als der zweitplatzierte Amerikaner Taylor Phinney kam er ins Ziel und verteidigte seinen Titel aus dem vergangenen Jahr. 24 Stunden, nachdem Judith Arndt das Zeitfahren der Frauen gewonnen hatte, lag Martin der Länge nach auf dem trockenen Asphalt des Rijkswegs, hinterließ in der Sonne einen ziemlichen Schweißfleck und machte das Glück für den Bund Deutscher Radfahrer bei dieser Straßenrad-WM in der niederländischen Provinz Limburg perfekt.

Zu Beginn des Jahres hatte der 27-Jährige seine "sportlichen Ziele 2012" in einer Art Liste auf seine Internetseite geschrieben. Diese Ziele waren Ausdruck hoher Erwartungen gewesen. Die ersehnte Top-Drei-Platzierung bei Paris-Nizza verpasste er nach einem üblen Trainingsunfall im Frühjahr mit Platz 62 deutlich. Der erhoffte Gewinn des Zeitfahr-Prologs bei der Tour de France ging mit Platz 45 wegen einer Reifenpanne ebenfalls daneben. Und der Wunsch, mindestens eine Etappe bei der Tour de France im Gelben Trikot zu fahren, war mit dem verpatzten Prolog und einem sturzbedingten Handbruch auf der ersten Etappe ebenfalls hinfällig.

Nach dem zwölften Platz im Zeitfahren der neunten Etappe (wegen der gebrochenen Hand und wieder eines platten Reifens) gab Tony Martin die Tour de France entnervt auf und fürchtete gar um seinen Start bei Olympia, wo er im Zeitfahren doch eine Medaille gewinnen wollte. Dies war bereits sein vorletzter Wunsch auf der Liste für 2012 gewesen. Doch er konnte in London starten, und endlich ging mit der Silbermedaille auch eine seiner Hoffnungen in Erfüllung. Die gequälte Seele hatte also bereits Anfang August eine gewisse Linderung erfahren, und dennoch hatte es noch dieser finalen Rehabilitierung bedurft am Mittwoch im Zeitfahren bei der Straßenrad-WM.

Um 15.24 Uhr war Martin in Heerlen nahe der deutschen Grenze bei Aachen als Titelverteidiger und deswegen als Letzter auf die 45,7 Kilometer lange Strecke gegangen. Er wollte dieses Gold unbedingt und galt auch deshalb als klarer Favorit, weil weder die Briten Bradley Wiggins (Zeitfahr-Olympiasieger und Tour-de-France-Gewinner) und Christopher Froome (Tour-de-France-Zweiter und Zeitfahr-Olympiadritter) noch der viermalige Titelgewinner Fabian Cancellara aus der Schweiz am Start waren.

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"Der WM-Sieg würde einiges aufwiegen", hatte Martin vor dem Start im Rückblick auf das verkorkste Jahr noch gesagt, dann war er zwei Minuten nach Alberto Contador die Rampe hinuntergerollt. Den Spanier, dessen Dopingsperre im August abgelaufen war, überholte Martin nach genau 40 Minuten. In diesem Moment, nach zwei Dritteln des Kurses, war sein Sieg bereits so gut wie ausgemacht. Am Ende siegte er in 58:38,76 Minuten. 2012 hatte endgültig eine Wende zum Guten genommen. Sein letzter Wunsch auf der Liste war in Erfüllung gegangen.

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"Ich habe großen Druck verspürt", gestand Tony Martin allerdings nach dem Rennen, "alle haben auf mich geschaut." Er habe "110 Prozent" geben müssen. Die Silbermedaille in London habe ihm aber viel Motivation für den Rest der Saison gebracht. "Ich wollte allen zeigen, wenn nichts schief geht, dann bin ich einer, der gewinnen kann." Dieser Sieg bedeute ihm freilich ganz besonders viel nach "solch einer Saison mit so vielen Aufs und Abs".

Es werden also zwiespältige Erinnerungen bleiben an sein fünftes Profijahr, das Tony Martin im Oktober mit jener Peking-Rundfahrt beenden will, die er im vergangenen Jahr gewonnen hatte. Im Anschluss an diesen Erfolg im fernen Asien hatte er begonnen, sich seine sportlichen Ziele für 2012 zurecht zu legen. Aber mit so viel anfänglichem Pech war da freilich nicht zu rechnen gewesen.

Die Sache mit der linken Hand ist auch noch gar nicht ausgestanden. Martin, der am vergangenen Sonntag mit seiner Omega-Quickstep-Equipe auch schon das Team-Zeitfahren in Valkenburg gewonnen hatte, klagte im Laufe der Woche noch immer über eine eingeschränkte Bewegungsfreiheit in der Hand. Deshalb werde man sie nach der Saison noch einmal röntgen und entscheiden, ob eine Operation notwendig ist. Der ausgebildete Polizeimeister will keine dauerhafte Fehlstellung riskieren. Schließlich hat er noch einiges vor in seiner Karriere.

Im Grunde könnte der Cottbuser, wohnhaft im Schweizer Ort Kreuzlingen, seine sportlichen Ziele von 2012 für 2013 einfach überrnehmen - mit Ausnahme des olympischen Zeitfahrens freilich. Aber auch die nächste Tour de France wird nicht gerade nach seinem Geschmack ausfallen, denn die 100. Auflage wird wohl auf den üblichen Zeitfahr-Prolog verzichten und verspricht bergig auszufallen. Kein Vergnügen für Zeitfahrer. Aber diese Aussicht war für Tony Martin am Mittwochabend in den Niederlanden noch ganz weit weg.

© SZ vom 20.09.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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