Tischtennis:Stolz, Schmerz und epische Ballwechsel

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Nach dem Matchball wirft es Dimitrij Ovtcharov auf den Boden. (Foto: Jung Yeon-Je/AFP)

Dimitrij Ovtcharov liefert sich gegen den chinesischen Favoriten Ma Long ein spektakuläres wie denkwürdiges Tischtennismatch. Warum er nicht im Finale steht? "Das weiß nur Gott, was da gefehlt hat", sagt er.

Von Andreas Liebmann

Er klopfte sich an die Brust, mehrmals. 'Vertrau in deine Stärke', sollte das wohl heißen. Dimitrij Ovtcharov hatte sich in dieses Halbfinalmatch hineingebissen gegen Ma Long, den Olympiasieger von 2016. Einen 0:2-Satzrückstand ausgeglichen. 5:0 und 7:2 hatte der Deutsche in diesem sechsten Durchgang geführt, ein Blitzstart, nachdem er den fünften wieder verloren hatte. Doch Ma Long holte auf, zum 7:5 tropfte sein Ball unspielbar von der Netzkante herab. Handtuchpause. Durchatmen. Fünf Schläge Richtung Herz. Dran glauben, Dima!

Im Viertelfinale gegen den Brasilianer Hugo Calderano hatte der 32-jährige Ovtcharov tags zuvor noch viel bedrohlichere Situationen überstanden. Auch da hatte er die ersten beiden Sätze verloren, aber lange nicht so gut gespielt wie jetzt, als er im ersten sogar Satzball hatte. "Überhaupt nicht anwesend" sei er da gewesen, urteilte Bundestrainer Jörg Roßkopf. Im dritten Satz lag er 4:8 zurück, im fünften 1:7. Gegen diesen Risikospieler aus Brasilien, der die Rückhand ähnlich rasant beschleunigen kann wie Ovtcharov; der den Zauberwürfel in elf Sekunden löst und Rückwärtssalti aus dem Stand schlägt. 4:2 gewann er gegen Calderano, seinen neuen Teamkollegen bei Fakel Orenburg, den Siebten der Weltrangliste, am Ende sogar deutlich. "Das gibt mir Hoffnung für morgen", sagte er danach. Für dieses eigentlich aussichtslose Kräftemessen mit Ma Long, dieses Match, das er schon sehr lange in seinem Kopf habe. "Ich glaube an meinen Sieg", versicherte er.

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Nun also Aufschlag Ma Long, im sechsten Satz. Dem Return lässt der Favorit einen krachenden Vorhandtopspin folgen, so hart, wie ihn sonst keiner in der Welt hinbekommt - doch Ovtcharov gelingt ein nicht minder wuchtiger Gegenspin. 8:5. Ma Long ist verblüfft, kurz darauf hat Ovtcharov den finalen siebten Satz erreicht. Alles ist möglich.

Andererseits: Es ist nicht so leicht mit der Zuversicht. Ma Long wird "der Außerirdische" genannt, seit Ovtcharov in einem Interview mal sagte, Ma spiele wie vom anderen Stern. Erst dreimal in seiner Karriere verlor er gegen Europäer. Ovtcharov war keiner der Glücklichen: 0:18 lautete die Bilanz gegen den dreimaligen Einzelweltmeister vor diesem Halbfinale. Zur Erinnerung: Ovtcharov war mal Weltranglistenerster. In langen Ballwechseln, sagte er mal, sei er vielleicht sogar im Vorteil gegen Ma Long, doch dieser Mann verstehe es, ihn gleich mit den ersten Bällen an die Wand zu nageln.

Dimitrij Ovtcharov und Ma Long duellierten sich auf höchstem Niveau. (Foto: David Goldman/AP)

Diesmal war es oft der in Düsseldorf lebende Deutsche, der nach dem eigenen Aufschlag unmittelbar punktete und kaum lange Ballwechsel zuließ. Den längsten Mitte des siebten Satzes entschied er für sich, 28 Schläge, eine epische Abfolge explosiver Topspins. 4:5 stand es danach aus seiner Sicht, doch Ma Long kam dann zu zwei, drei sogenannten kleinen Punkten, die vielleicht entscheidend waren. Er hatte Matchball beim 10:7, beim 10:8, zweimal attackierte Ovtcharov mutig über dem Tisch. Der letzte lange, spektakuläre Schlagabtausch brachte die Entscheidung für Ma Long. Ovtcharovs Vorhand blieb im Netz hängen, er sank in die Knie, als hätte ihm jemand den Stecker gezogen. Kurz darauf saß er auf der leeren Tribüne, rief seine Frau Jenny an und seinen Vater Michail, der ihm die heimische Garage in Springe zu einer kleinen Tischtennishalle umgebaut hat, in der sie gemeinsam üben, wann immer er zu Besuch kommt. "Das war eines der besten Spiele, die ich je gespielt habe", sagte er danach, in einer wilden Mischung aus Stolz und Schmerz. "Das weiß nur Gott, was da gefehlt hat."

Für China war es eine Prestigesache, im tischtennisverrückten Japan zu dominieren. Bei den Frauen kickte am Donnerstag Sun Yingsha die letzte Japanerin aus dem Tableau, Mimo Ito, womit sie in ein rein chinesisches Finale einzog. Ein solches gibt es nun auch bei den Männern, wobei sich nicht nur Ma Long gewaltig anstrengen musste. Im ersten Halbfinale hatte sich auch Fan Zhendong nur hauchdünn gegen Lin Yun-ju aus Taiwan durchgesetzt, 11:8 im siebten Satz.

Nach dem Spiel telefoniert Ovtcharov mit seinen Lieben in der Heimat. (Foto: Hannah McKay/Reuters)

Ovtcharovs Glanzleistung kam keineswegs überraschend. Nach seiner Zeit als Weltranglistenerster Anfang 2018 hatte er mit Verletzungen zu kämpfen, er hatte es wohl übertrieben mit seinem gewaltigen Trainings- und Turnierpensum. 150 Flüge hatte er im Jahr zuvor gezählt. Die Hüfte schmerzte. Nach drei Wochen Schonung sagte er im SZ-Interview, er habe noch nie so lange pausiert. Man kann kaum ahnen, wie sich für ihn die Corona-Pause anfühlte. Kurz zuvor hatte er bei den German Open 2020 in Magdeburg Fan Zhendong besiegt, den Weltranglistenersten, dann sei von einem Tag auf den anderen die Welt stehen geblieben. Als sie sich endlich wieder drehte, gewann er die Premiere der neuen Hochglanz-Weltturnierserie WTT in Katar und stand im EM-Endspiel, das er gegen Timo Boll verlor.

Vor einigen Tagen postete Ovtcharov ein Video aus seinem Appartement in Tokio. Das Pappbett voller Sportklamotten, der viel zu kleine Wandschrank, der Blick vom Balkon auf Wasser und Hochhäuser. Dass ihnen die Coaches den Fernseher geklaut, die Spieler dafür den Kampf um die Kaffeemaschine gewonnen hätten, erzählte er, und zeigte den speziellen Trainingsanzug der deutschen Athleten, der für die Medaillenzeremonie reserviert sei. Er hing über dem Stuhl, griffbereit. Daumen drücken, bat er, dass er ihn auch tragen dürfe.

Dimitrij Ovtcharov wird im deutschen Team "Mister Olympia" genannt, weil er schon vier Medaillen geholt hat, davon einmal Bronze im Einzel. Das hat er Timo Boll voraus. Am Freitag kann er das wiederholen, im Spiel um Platz drei gegen Lin Yun-ju. Gegen den 19-Jährigen hat er im März sein WTT-Finale gewonnen. Mister Olympia ist bereit.

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