Tennisprofi Jannik Sinner:Widerstand aus dem Pustertal

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Wuchtige Vorhand: Jannik Sinner beherrscht das aggressive Spiel im Tennis. (Foto: Valerio Pennicino/Getty Images)

Jannik Sinner schafft das Unmögliche: Er besiegt bei den ATP Finals Novak Djokovic. Der Südtiroler verdankt seinen Entwicklungsschub in dieser Saison einer Erkenntnis: Gegen die Besten entscheidet der Kopf.

Von Gerald Kleffmann

Als der letzte Punkt gespielt war, wusste Novak Djokovic sofort, was er machen musste. Er schritt ans Netz und streckte die Hand aus. "Man muss ihm gratulieren. Er hat ein fantastisches Spiel gespielt", sagte der Serbe später und verriet: "Das habe ich ihm am Netz gesagt. In den wichtigsten Momenten hat er sein bestes Spiel gemacht und den Sieg absolut verdient." Der Eindruck, dass sich Djokovic fast freute, doch mal wieder einen Gegner gefunden zu haben, der ihn bezwingen konnte, täuschte nicht. Gerade in diesem Jahr ist er in eine neue Karrierephase hinübergeglitten.

Als spielerisch schier unüberwindbar gilt er ja, drei Grand-Slam-Finals gewann er 2023, im vierten - in Wimbledon - stand er auch im Endspiel, dort triumphierte sein größter Herausforderer der jungen Generation, der Spanier Carlos Alcaraz, 20. Seitdem aber reihte Djokovic schon wieder 19 Match-Erfolge und drei Titel aneinander, der Mann ist auf einer Mission, Rekorde jagt er mit Genuss. 24 Grand Slams hat er inzwischen verbucht, bei solchen Bilanzen fällt es leicht, Enttäuschungen schicksalsergeben hinzunehmen. "Die meiste Zeit meiner Karriere habe ich solche Spiele gewonnen. Manche habe ich verloren, wie das heute Abend", sagte er seelenruhig nach dem 5:7, 7:6 (5), 6:7 (2) am Dienstagabend in seiner zweiten Partie der Gruppenphase bei den ATP Finals in Turin.

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Für Djokovic war die Niederlage kein Drama, an diesem Donnerstag im Duell mit dem für den verletzten Griechen Stefanos Tsitsipas nachgerückten Polen Hubert Hurkacz kann er das Halbfinale erreichen. Für seinen Bezwinger indes war der Erfolg schon ein strahlender. "Dieser Sieg gehört definitiv zu meinen Top-Siegen", sagte Jannik Sinner. Er weiß auch: Die Art und Weise, wie der 22 Jahre alte Südtiroler aus dem Pustertal diese Partie zu seinen Gunsten abschloss, zeigt, wie gut er sich entwickelt hat. Vor allem mental.

Djokovic zermürbt seine Gegner, er macht den einen Fehler weniger, den einen Schritt schneller, schlägt nicht härter, aber präziser, nervenstark ist er, zäh bis zum letzten Punkt. Reihenweise sieht man andere an ihm zerschellen, sie zerbrechen erst innerlich, dann entgleitet das Spiel, und aus ist es. Er ist wie diese kühnen Korsen in dem Band "Asterix auf Korsika", die die Römer nur mit starren Blicken herausfordern - irgendwann halten die anderen dem Blick und dem Druck nicht stand und geben auf. Djokovics Erfolgsformel klingt lapidar, doch sie geleitet ihn nun mal zu all seinen surrealen Bestleistungen. "Der Gewinner ist der, der mehr an den Sieg glaubt", sagte er nun in Turin. Und genau das tat Sinner diesmal im Grunde. Er leistete Widerstand. Er wollte nicht nur mithalten, wie in den vergangenen Jahren, als er dreimal gegen Djokovic antrat und stets verlor.

Irgendwas muss Djokovic kitzeln - und seien es die Pfiffe von den Tribünen

Wer Djokovic niederringen will, muss sich eben auf ihn einlassen. Man muss sich seiner Präsenz stellen, wozu neuerdings auch gelegentliche Mätzchen gehören. Es wirkt fast, als langweile es ihn zu spielen, wenn er nicht zusätzlich noch der Buhmann ist. Er legt sich gerne mit Zuschauern an, in Paris war das jüngst schon so. Aber man muss auch konstatieren: Er hat jedes Turnier x-mal gewonnen. Irgendwas muss ihn ja kitzeln, und seien es Pfiffe von den Tribünen, die er dann dirigierend in Empfang nimmt wie beim Match gegen Sinner.

Sinner, als Junge ein exzellenter Skirennfahrer und spät zum Tennis gekommen, war in Warpgeschwindigkeit die Rangliste hochgeklettert, schon vor zwei Jahren rückte er als Ersatzmann in Turin nach und kam zu zwei Einsätzen. Für ihn, den immer netten, hochprofessionellen Schlaks, geht es, das sagte er schon 2021 der SZ, darum, mental härter zu werden. Diese Saison hat er diesbezüglich den größten Schritt gemacht. 59 Matches gewann er, so viele wie kein italienischer Profi vor ihm. Vier Titel holte er, darunter den ersten bei einem Masters-Turnier, in Toronto. Alles neue Dimensionen. Von 15 Duellen mit Top-Ten-Kontrahenten siegte er, aktuell die Nummer vier, zehnmal.

Novak Djokovic gratuliert nach 19 Siegen in Serie mal wieder einem Gegner zu einem Erfolg gegen ihn - Jannik Sinner nimmt die Glückwünsche gerne an. (Foto: Antonio Calanni/dpa)

"Es ist Teil des Prozesses. Ich habe das Gefühl, dass ich in bestimmten Momenten eines Spiels etwas selbstbewusster bin", so erklärte Sinner seine Resilienz, die ihn auch gegen Djokovic auszeichnete: "Ich denke, ich war in wichtigen Momenten, insbesondere im dritten Satz, wirklich mutig und intelligent." Da überkamen ihn eben keine Zweifel, als er ein Break zum 4:2 sofort wieder einbüßte. Oder im ersten Satz: 5:5 und 40:0 stand es bei Aufschlag Djokovic. Sinner, die Schulter und der Kopf oben, gelangen neun Punkte in Serie. Sinner agierte da auch gegen sein Naturell. Die Faust zu erheben, das musste er erst lernen. "Es war wichtig, ein großes Spiel zu haben und sich seinem Niveau nahe zu fühlen", sagte Sinner später höchst zufrieden.

Seine neue Wettkampfhärte spiegelt sich auch bei Duellen mit Kollegen in seiner Gewichtsklasse. Sechsmal verlor er hintereinander gegen den Russen Daniil Medwedew. "Für mich ging es in diesem Jahr auch darum, mich selbst in bestimmten Situationen ein bisschen besser zu verstehen", sagte er. In Peking und Wien gewann er jüngst zwei große Finals - jeweils gegen Medwedew. In seiner nächsten Partie an diesem Donnerstag muss sich Sinner wieder beweisen, gegen den Dänen Holger Rune ist seine Bilanz negativ, zwei Matches, zwei Niederlagen. Er liebt jetzt solche Aufgaben, seine Denkweise sei nun "etwas anders". Ein großer Sieg wie am Dienstag reicht nicht mehr.

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