Tabellenletzter FC St. Pauli:Nur die Krisenrhetorik sitzt

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Der Blick von St. Paulis Philipp Ziereis zeigt nach unten - in Richtung dritte Liga. (Foto: dpa)

Tradition und Folklore reichen nicht mehr: Der FC St. Pauli ist Letzter in der Zweiten Bundesliga und spielt wie ein Absteiger. Wenigstens verbal macht den Hamburgern so schnell keiner was vor.

Von Carsten Eberts, Hamburg

Über dem Hamburger Stadtteil St. Pauli schwebt ein Schreckensszenario. Der große Nachbar, der Hamburger SV, könnte in fünf Monaten aus der Bundesliga absteigen, und trotzdem könnte das Hansestadtderby in der zweiten Liga ausfallen. Wenn auch der FC St. Pauli absteigt, runter in Liga drei.

Zu Beginn jeder Saison, wenn der Sender Sport1 die "beste zweite Liga aller Zeiten" ausruft, sind in den Werbeclips auch Bilder vom FC St. Pauli zu sehen. Zu ernsthaften Aufstiegskandidaten zählen die Hamburger zwar schon lange nicht mehr, aber der Klub verkörpert vieles, womit die zweite Liga gerne für sich wirbt: Fußball-Folklore, euphorisches Publikum, jede Menge Tradition.

Doch nun ist der Abstieg kein unrealistisches Szenario mehr, Tradition und Folklore reichen jetzt nicht. Das haben die Protagonisten nach einigem Herumwinden anerkannt. Es fehle seinem Team an individueller Klasse, so das Urteil von Trainer Thomas Meggle. Er sagt: "Wir haben derzeit nicht den Key-Spieler, der den Unterschied ausmacht." Seiner Mannschaft attestiert er "null Komma null Homogenität". Kurzum: St. Pauli ist Tabellenletzter.

Der neue Präsident Oke Göttlich, ein Medienunternehmer, übt sein Amt seit gerade erst zwei Wochen aus. Er will an den handelnden Personen festhalten, an Trainer Meggle und Sportchef Rachid Azzouzi. Dem Hamburger Abendblatt erklärte er: "Wir stehen bei entgegenschlagender Gischt auf der Brücke und werden kämpfen, bis wir Tabellenplatz 14 oder 15 erreicht haben." In der Krisenrhetorik sind die Hamburger kreativ.

Abgesehen davon bringt St. Pauli in dieser Spielzeit fast alles mit, um am Ende in Liga drei zu landen. Der Negativlauf dauert bereits zwei Monate an, die Mannschaft wirkt enorm verunsichert. Zwar habe der Klub aktuell den teuersten Kader der Vereinsgeschichte, wie Göttlich vorrechnete. Doch Schlüsseltransfers haben nicht eingeschlagen, von Lasse Sobiech über Ante Budimir bis Michael Görlitz. Zudem schmerzen zwei Weggänge: Durch das Karriereende von Fabian Boll und den Wechsel von Fin Bartels zu Werder Bremen fehlen zwei Stützpfeiler, die den Klub öfter davor bewahrt haben, in die Abstiegsregion zu geraten.

Insbesondere Boll, der zwölf Jahre für den Klub spielte, galt als Identifikationsfigur, der der Mannschaft mit purer Willenskraft Punkte beschert hat. Er war so ein "Key-Spieler", wie Meggle ihn nun vermisst. Bei Bolls Abschiedsspiel Mitte Oktober, als Bolls Truppe gegen das aktuelle Team 5:1 gewann, feuerte das Publikum die alten Helden an. Die Mannschaft von Meggle wirkte anschließend noch verunsicherter.

Auch Meggle, 39, der den Klub als Spieler einst zum 2:1-Sieg gegen den FC Bayern schoss, war früher so ein mitreißender Typ. Nun muss er seine Mannschaft als Trainer anführen. Viel Erfahrung hat er nicht. Seit Anfang Oktober hat sein Team nicht mehr gewonnen, dazwischen ein einziger Punktgewinn in Nürnberg. Am Freitag droht beim VfL Bochum die nächste Niederlage. Wieder so ein Spiel, das man "auf keinen Fall verlieren darf", sagt der Coach. Die Frage, die sich alle stellen: Ist dieser Kader dazu geeignet, um im Abstiegskampf zu bestehen?

Meggle hat zwar Lob dafür kassiert, dass er Jungprofis wie Okan Kurt und Andrej Starzew viel Spielzeit gibt - sie sind aber viel zu jung, um eine Mannschaft im Abstiegskampf zu führen. Gerade im Sturm greift kein personeller Kniff des Trainers. Vier Tore in den vergangenen sieben Spielen sind eine denkbar ausbaufähige Bilanz. Bis zur Winterpause will sich St. Pauli durchmogeln, dann auf dem Transfermarkt aktiv werden.

"Die Situation wird uns zusammenschweißen", glaubt der wackere Sportchef Azzouzi, dem die meisten fehlgeschlagenen Transfers angelastet werden. Das klingt nach Schema F für in die Krise geratene Vereine, nach keinem echten Plan. Göttlich widerspricht: "Wir haben so viel Plan B in der Tasche, dass wir fast nicht mehr gerade laufen können." In Krisenrhetorik macht den Hamburgern vom Millerntor so schnell keiner was vor.

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