Streit über Abseitsfälle in der Bundesliga:Lotto im Strafraum

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Der Fußball-Weltverband Fifa wollte die Regel für das passive Abseits vereinfachen und straffen. Erreicht hat er genau das Gegenteil. Jetzt sind nicht nur die Zuschauer verwirrt, sondern auch die Schiedsrichter. Die Bundesliga hadert mit einigen kuriosen Entscheidungen.

Philipp Selldorf

Lukas Podolski hat bereits zehn Medaillen für das "Tor des Monats" erhalten, kein Spieler ist häufiger ausgezeichnet worden, und wenn die Wähler den Schützen für Oktober küren, dann wird der Kölner Angreifer wohl seine elfte Ehrung bekommen.

Der Hannoveraner Sergio Pinto, nachdem er erkannt hatte, dass sein wunderbares Tor nicht zählt. (Foto: dpa)

Sein Schuss zum 2:0 gegen Hannover 96 schien einer Explosion von 1000 roten Dynamitstangen zu gleichen. Trotzdem war es kein roher Gewaltakt, sondern ein typisches Podolski-Kunstwerk und deshalb aus Gründen der Kultur erfreulich, dass kein Schiedsrichter mit einem Pfiff aus seiner Pfeife störte, und dass auch kein Linienrichter die Fahne hob. Gerecht gegen die Hannoveraner war es allerdings nicht. Das Tor, das den Kölner 2:0-Sieg besiegelte, hätte aus Gründen der Gleichheit nicht zählen dürfen.

Im Grunde war es zwar unerheblich, dass sich Podolskis Kollege Adil Chihi in Abseitsstellung befand - der Ball wäre auch ins Netz geflogen, wenn sich Chihi zum Reibekuchenstand begeben hätte. Aber Chihi stand eben auf die gleiche unerhebliche Weise im Abseits wie eine viertel Stunde vorher Hannovers Didier Ya Konan beim Torschuss von Sergio Pinto, der das 1:1 bedeutet hätte. Chihis passives Abseits wurde nicht geahndet, Ya Konans passives Abseits schon.

Der eine Linienrichter ließ die Fahne unten, der andere nicht, aber beide haben laut Gesetz korrekt gehandelt. "Wie kann das sein? Ich verstehe das nicht. Dafür gibt es kein Verständnis", klagte Pinto, als befände er sich mitten in einer antiken Tragödie.

Die Antwort, die am nächsten Tag Lutz-Michael Fröhlich gab, wird seinen Schmerz nicht gelindert haben. Der ehemalige Bundesliga-Schiedsrichter, inzwischen Schiedsrichterfunktionär beim Deutschen Fußball-Bund (DFB), beurteilte die Sache als "Grenzfall", die irgendwo im "Ermessensspielraum" des Aufsehers liege. Weil es an diesem Wochenende aber vier solcher Grenzfälle gegeben hatte, zwei in Köln, einer in Mainz (beim aberkannten Tor des Mainzers Müller) und einer in Bremen (beim anerkannten Tor des Dortmunders Owomoyela), ist Unruhe in der Liga entstanden.

Warum niemand glücklich ist über den neuen Umgang mit dem passiven Abseits, das hat der Mainzer Manager Heidel formuliert: "Das ist doch ein Lotteriespiel."

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Pinto darf sich als Opfer des Systems betrachten. Das System, hier vertreten durch die Regelwächter im Weltverband Fifa, hatte im Mai entschieden, passives Abseits straffer zu regulieren und dadurch zu vereinfachen, entsprechende Anweisungen ergingen an die Nationalverbände. Die Schiedsrichter sollten künftig strenger und konsequenter verfahren, sobald ein Spieler der angreifenden Mannschaft "Einfluss nimmt", indem er zum Beispiel dem Torwart im Weg steht; in Deutschland hatte es bis zu Beginn dieser Saison eine eher großzügige Auslegung zugunsten des angreifenden Teams gegeben. "Wir werden Stellschrauben zurückdrehen", erklärte Fröhlich im Sommer.

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Der Plan der Fifa, die seit Jahren tobenden Debatten über den schwer zu fassenden Tatbestand des passiven Abseits zu minimieren, hat allerdings eher das Gegenteil bewirkt. Vorher war nur das Publikum verwirrt, jetzt sind es auch die Schiedsrichter. Es herrscht Angst vor Willkür. In Köln hatte Spielleiter Drees beste Sicht auf Pintos Torschuss, er erkannte den Ausgleichstreffer spontan an - bis er die gehobene Fahne seines Assistenten sah. Dieser hatte allerdings bloß pflichtgemäß die Abseitsstellung von Ya Konan angezeigt.

Dass Ya Konan den Kölner Torwart Michael Rensing keineswegs behindert hatte und im wahrsten Sinne des Wortes eine passive Spielfigur war, war für Drees eigentlich ersichtlich, bei der Entscheidung ist er trotzdem seinem fahnenschwenkenden Linienrichter gefolgt. Rensing staunte: "Ich habe ihn (Ya Konan) nicht mal gesehen und habe mich schon während des Spiels gefragt, warum er das gepfiffen hat."

Hannovers Trainer Slomka hatte im Frühjahr im Rahmen einer Umfrage für den Erhalt des passiven Abseits plädiert, weil es "interessante taktische Varianten ermöglicht", aber nach diesem Wochenende wird er sich womöglich jenen zehn Kollegen anschließen, die bereits damals forderten, auf die Unterscheidung zwischen aktivem und passivem Abseits zu verzichten. "Die Abseitsregel muss neu und eindeutig definiert werden", verlangt Franz Beckenbauer, doch die Beschlusswege bei der Fifa sind lang. Das wissen die Experten beim DFB, seitdem sie ihren Reformantrag eingereicht haben, das Prinzip der doppelten Höchststrafe bei Notbremsen im Strafraum abzuschaffen.

Hierzu hatte es beim Feldverweis für Schalkes Torwart Fährmann am Wochenende ebenfalls ein anschauliches Beispiel gegeben. Strafstoß und Verwarnung wären "völlig ausreichend" gewesen, fand Schiedsrichteraufseher Fröhlich; der zuständige Spielleiter Sippel sah sich aber gezwungen, der Fifa zu gehorchen und Rot zu zeigen.

Über den Wunsch nach einer dem Spiel gerecht werdenden Änderung berät eine Fifa-Kommission. Doch bis dahin wird Podolski wohl noch einige Tore des Monats schießen. "Bis zur WM in Brasilien sollte die Entscheidung gefallen sein", hofft DFB-Lehrwart Lutz Wagner.

© SZ vom 18.10.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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