Skispringen:Zeit für den aufgekratzten Wellinger

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Die Skisprung-Psyche ist in Schwung: Andreas Wellinger, hier beim Jubel über Platz zwei bei der WM in Planica. (Foto: Daniel Karmann/dpa)

Andreas Wellinger ist zum Auftakt des Skisprungwinters in Form - und damit eher die Ausnahme im deutschen Team. Er soll die Kollegen mitreißen, die noch an ihren Sprüngen tüfteln.

Von Volker Kreisl

Die Vorstellung ist furchterregend. Ganz oben am Einstieg der Anlaufspur zu stehen und darauf zu warten, dass jemand die Fahne schwenkt. Rund zehn Grad minus hat es, und irgendwo weit unten sieht der Springer seinen Trainer. Rechts und links sind die Kiefern verschneit, der finnische Wind bläst von Norden, und normale Menschen bleiben zu Hause, im beheizten Wohnzimmer.

Nicht aber die Skispringer, die einen langen und heißen Sommer überstehen mussten. Die auf grünen Matten landen mussten, weil auch im Sommer die Sprungform gepflegt werden will. Die endlich zum herbeigesehnten Saisonauftakt auf einem zugigen Balken sitzen, in einem flatternden Sprunganzug bei im Schnitt minus zehn Grad, und sich in die eisige Luft hinausstürzen. Andreas Wellinger jedenfalls ist schon seit Wochen voller Vorfreude. "Kuusamo", sagt er, "ist ein Ort, den ich mag, das Panorama ist ein Traum, der Schnee, die Kälte."

Nicht nur er, auch der gesamte Tross fiebert hin auf den Start in dem Ort, gelegen 60 Kilometer vom Polarkreis, wo der Springer am hohen Schanzenstart vielleicht ein Polarlicht vorbeihuschen sieht. Allerdings - ein Skispringer ist in seinem speziellen Sport auch zu großer Fokussierung gezwungen, weshalb Andreas Wellinger beim ersten offiziellen Training dieser Saison nicht Polarlichtern hinterhergeschaut haben dürfte, sondern auf die Anlaufspur.

Von Grübeln bis Vorfreude - in Horngachers Tross finden sich alle Stimmungen

Wie immer im Skispringen ist auch zum Saisonanfang dieses Winters die Laune äußerst vielschichtig. Im Tross von Bundestrainer Stefan Horngacher finden sich alle Stimmungen. Vor dem Saisonauftakt und nach den Trainingswochen befasste man sich mit den versteckten Problemen im Ablauf, mit der Hocke bei der Anfahrt, mit der alles beginnt, mit dem Absprung am Schanzentisch, jenem extrem kurzen Moment, den der Springer so gut beherrschen muss, dass er dies seinem Körper selber überlassen muss. "Feintuning" nennt auch Horngacher diese Prozedur, die oft in den ersten, kalten und dunklen Weltcup-Springen stattfindet.

Nach den letzten Springen bei der deutschen Meisterschaft hatte sich für Horngacher dann ein erstes klares Bild ergeben, wenig später war die Startmannschaft für den Weltcup nominiert. Für die ersten Stationen in Kuusamo und Lillehammer sind wie immer alle Varianten an Skispringern dabei. Karl Geiger aus Oberstdorf, der über die Jahre vielleicht konstanteste Siegspringer, der noch jüngere Philipp Raimund, 23, der in dieser Saison einen Satz nach vorne machen könnte. Weiter wird das Team ergänzt mit dem deutschen Meister Martin Hamann, mit Stephan Leyhe und Pius Paschke. Fehlen noch zwei der besten Springer der vergangenen Jahre: einerseits Markus Eisenbichler aus Siegsdorf, der seinen Sprung noch nicht zur Reife gebracht hat und während der ersten beiden Weltcups der Winterreise 23/24 lieber weiter an seinem Sprungsystem feilt. Und schließlich Andreas Wellinger, der mit seiner Frühform sich selbst in gute Laune versetzt und wohl auch das Team.

Der Springer mit den langen Beinen und dem schlanken Oberkörper ist zu Großem fähig, wenn er seine Leichtigkeit beim Abspringen und Fliegen in den Winter mitnehmen kann. Dem Vernehmen nach hatte er einen erfüllten Sommer, nicht nur mit effektivem Training, sondern auch mit Ausflügen in den Bergen auf Touren über Steine, Wiesen und die Wiesn - Letzteres in der Großstadt, wo es ihm offenbar auch gut gefiel. Alles in allem hatte das auch seine Skisprung-Psyche stabilisiert.

Wellinger ist jetzt 28, und wie jeder ist auch er reifer geworden

Wellinger hatte Spaß, auch auf Sommerschanzen, was er mit seinem Sieg auf dem Flachlandbacken bei Hinzenbach nahe Linz unter Beweis stellte. Der Ruhpoldinger zählt zu den Springern, die ihren Erfolg nicht gerade im Stillen genießen, sondern gerne mit der ganzen Welt teilen, wie einmal, als er zur Siegerkonferenz ins Pressezentrum platzte und die schreibenden Journalisten aus den Gedanken riss: "Hey, habt's scho mal an Sieger g'sehen?" Man hat ihm das sofort verziehen - still Schreibende sind halt eine große Verführung für einen aufgekratzten Sieg-Wellinger.

Möglich, dass dies im Laufe des Winters wieder passiert. Wellinger ist jetzt 28, und wie jeder ist auch er reifer geworden. Er hat eine lange Periode hinter sich, in der er von einem Rückschlag zum nächsten sprang. Nach dem Team-Olympiasieg 2014 in Sotschi hatte er Formtiefs und vor allem zwei schwere Verletzungen. Insbesondere der Kreuzbandriss ein Jahr nach seinem Einzel-Olympiasieg in Pyeongchang 2018 hatte ihm zugesetzt.

Umso mehr zählt jetzt die nächste Wellinger-Periode, die ihm wieder das Gegenteil, nämlich große Freude bereiten könnte. Bundestrainer Stefan Horngacher sagt, Wellinger habe sein Niveau noch mal gesteigert. Er könne "ein deutliches Wort um den Sieg mitsprechen." Auch Wellinger ist gestärkt nach den ersten Herbstsprüngen, weil: "Das war ein sauguter Einstieg."

Vielleicht kann er die anderen mit seiner Art mitreißen. Vielleicht kann er auch seine Teamkollegen dazu bringen, locker abzuspringen und weit zu fliegen, egal wo und bei welchem Wetter, bei Sonnenschein oder bei Dunkelheit - und herrlicher Kälte.

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