Skispringen:Der alte Hüpfer

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Noriaki Kasai hat vor Jahren gesagt, er wolle mit 50 noch springen. Damals dachten alle, er beliebe zu scherzen. Heute ist der Japaner 43 Jahre alt, hat 500 Weltcups absolviert - und man ist sich nicht mehr so sicher.

Von Thomas Hahn

Der Leistungssport hat vor allem Respekt vor der Jugend. Wenn die Jugend da ist, geht es ihm gut, deshalb sind auch seine großen Verbände immer sehr damit beschäftigt, Nachwuchs anzuwerben und Talente zu fördern. Jugend ist im Leistungssport eine Ressource, in die man investieren muss und um die es einen großen Konkurrenzkampf gibt. Um die Alten hingegen bemüht sich niemand. Die Verbände sehen manchmal sogar ein Hindernis in ihnen, weil sie den Jungen im Weg stehen. Die Alten gelten nichts im Leistungssport. Oder?

In diesen Tagen scheint das nicht zu stimmen, denn alle Welt, zumindest alle Wintersportwelt, redet von Noriaki Kasai aus Sapporo in Japan, der 43 Jahre alt ist und immer noch einer der besten Skispringer der Welt. Am Donnerstag hat er in Planica, Slowenien, seinen 500. Weltcup-Einsatz absolviert. Platz sechs. Die jungen Leute um ihn herum waren so drahtig wie immer, aber den meisten Applaus bekam Kasai in seinem goldenen Ehrenleibchen mit der Nummer 500. Seit geraumer Zeit schon betrachtet das Publikum nicht die besten Nachwuchskräfte im Feld als kleines Weltwunder. Sondern ihn: Kasai, den Japaner. Das Alter als Attraktion. Was ist passiert?

Skispringer Noriaki Kasai, 43. (Foto: J. Hetfleisch/Getty)

Schwer zu sagen. Es gibt keinen Plan für eine Karriere, wie sie Noriaki Kasai gerade macht. Kein Jugendtrainer legt es darauf an, dass jemand im 44. Lebensjahr noch auf höchstem Niveau sportelt. Es gibt auch keine Förderprogramme für 30-Jährige, um Nachwuchs für die Leistungsklasse Ü40 zu züchten. Und als Kasai 1992 (!) Skiflug-Weltmeister wurde, hatte er bestimmt nicht im Kopf, dass er 24 Jahre später immer noch um die besten Plätze mitfliegen kann. Kasai, geboren am 6. Juni 1972, ist ein seltener Sonderfall. Er hält in einem Sport mit, der normalerweise ein Spielfeld für junge bis sehr junge Männer ist; dass zum Beispiel der 16-jährige Slowene Domen Prevc zuletzt weit vorne im Weltcup platziert war, ist im Vergleich zu Kasais Fortkommen eine eher gewöhnliche Auffälligkeit.

Kasai wäre im Grunde ein Fall für eine tiefergehende sportwissenschaftliche Untersuchung. Bei ihm scheinen die Gesetze des Alterns nicht zu greifen. Skispringen ist auch eine Schnellkraftübung, gerade die Spritzigkeit kann man aber normalerweise nicht über die Jahre retten.

Und noch erstaunlicher wird Kasais Karriere, wenn man bedenkt, wie anders das Skispringen war, als Kasai einstieg. Bei seinem ersten Weltcupsieg in Harrachov im März 1992 schwebten die Athleten noch als Leichtgewichte in weiten Anzügen zu Tale. Die athletischen Anforderungen waren ganz andere als heutzutage, da die Anzuggröße streng vorgeschrieben ist und es Regeln gibt, die zu wenig Körpergewicht mit dem Abzug von Skilänge bestrafen. Kasai hat den Wandel überstanden. Wie hat er das gemacht?

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(Foto: Jan Hetfleisch/Getty Images)

500 Mal ist der Japaner Noriaki Kasai schon beim einem Weltcup angetreten.

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(Foto: Jan Hetfleisch/Getty Images)

In Planica landet Kasai auf Rang sechs - und wird dafür wie ein Weltmeister bejubelt.

Kasai spricht nicht gut genug Englisch, um diese Frage für sein internationales Publikum umfassend beantworten zu können. Er verweist auf seine Erfahrung und sagt, dass er sich immer noch jung fühle. Aber wahr ist wohl, dass hinter der Laufbahn des alten Kasai mehr steckt als nur Beharrlichkeit und exzellente Technik. Die Gründe kann man auch aus der japanischen Mentalitätsgeschichte herleiten und aus einem Sportsystem, das in gewisser Weise Sportprofis auf Lebenszeit hervorbringt. Skispringer sind in Japan Angestellte von Firmenteams und leben von ihrer Arbeit ganz gut. Kasai ist eine Art Springertrainer bei Tsuchiya Home, der Ski-Mannschaft eines Wohnungsbauunternehmens in Sapporo. In japanischen Medien wird Kasai ausführlicher zitiert. Denen hat er mal gesagt, dass er auch deshalb nicht aufgehört habe, weil er eine Verpflichtung spüre gegenüber seinem Arbeitgeber, der nämlich trotz wirtschaftlicher Krise das Skispringen immer gefördert habe. Zugleich ist aber wahr: Weiterzumachen war für Noriaki Kasai auch immer die lukrativste Alternative.

Gleichzeitig pflegt Japans Gesellschaft einen hohen Respekt vor dem Alter. Nachwuchsarbeit wiederum ist nicht die größte Stärke des japanischen Sports. So konnte es dazu kommen, dass Kasai nach seinem Weltcupsieg Ende Februar 2004 in Park City/USA in eine lange Phase der Mittelmäßigkeit stürzen konnte, ohne aus dem Nationalteam gespült zu werden. Die Phase dauerte fast ein Jahrzehnt. In anderen Ländern hätten ihn die Jungen verdrängt. Aber im japanischen Team gab es keine Jungen, die besser waren. Und in der Saison 2013/14 war der Alte dann auf einmal wieder ganz oben: Sieg im Januar 2014 am Kulm bei Bad Mitterndorf, wenig später Silber-Gewinn bei Olympia in Sotschi. Kaum zu glauben.

Irgendwann wird sich auch Noriaki Kasai den Symptomen des Alters beugen müssen. Die Frage ist nur wann. Kasai hat vor Jahren schon gesagt, er wolle mit 50 noch springen. Damals dachten alle, er beliebe zu scherzen. Heute ist man sich nicht mehr so sicher.

© SZ vom 19.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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