Ski Alpin: Sicherheit:Ideen versenken

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Der schwere Sturz der Britin Chemmy Alcott zeigt einmal mehr das hohe Verletzungsrisiko im Skirennsport. Es gibt Lösungsansätze für mehr Sicherheit - aber keinen, der sie vertieft.

Michael Neudecker

Jetzt also Chemmy Alcott: Sie flog durch die Luft, verlor das Gleichgewicht, und als sie landete, brach sie sich das Schienbein, vielleicht auch das Wadenbein. Es war das Abfahrtstraining am Donnerstag in Lake Louise, Kanada, wo sich die Skirennfahrerinnen an diesem Wochenende erstmals in dieser Saison in den Geschwindigkeitsdisziplinen messen. Für die Britin Chemmy Alcott ist die Saison nun beendet, aber man kennt derlei ja schon, Stürze und Verletzungen sind Teil des Geschäfts. Vergangenes Wochenende zog sich die Deutsche Carolin Fernsebner beim Riesenslalom von Aspen einen Meniskusschaden und einen Kreuzbandriss zu, es war ihr dritter, und kurz darauf riss ihrem Kollegen Andreas Strodl das Kreuzband. Ohne zu stürzen.

Die Britin Chemmy Alcott stürzt beim Abfahrtstraining im kanadischen Lake Louise. (Foto: AFP)

"Das Verletzungsrisiko im Weltcup ist höher als bislang bekannt", so steht es in einer Studie der Norwegischen Fakultät für Sportwissenschaften in Oslo. Das Institut dokumentiert seit vier Jahren die Verletzungen im Ski-Weltcup, vergangenes Jahr wurden die Ergebnisse von 2006/07 und 2007/08 veröffentlicht. Allein in diesen beiden Jahren wurden 191 "akute Verletzungen" notiert, jede dritte war dabei eine schwere Verletzung mit einer Ausfallzeit von mindestens 28 Tagen. 83 Prozent aller Weltklassefahrer erleiden zumindest eine solche schwere Verletzung im Verlauf ihrer Karriere.

Arbeitsgruppe ohne Befugnis

Charly Waibel, Cheftrainer der deutschen Skirennfahrer, hat die Zahlen in dem Dossier unterstrichen und mit Ausrufezeichen markiert. Für ihn ist die Osloer Studie eine Stütze seiner Arbeit: Sie ist die erste ihrer Art, ältere Studien waren weniger umfangreich. Waibel ist in der neu gegründeten Arbeitsgruppe Sicherheit des Ski-Weltverbandes Fis; früher war er sechs Jahre lang Wissenschaftlicher Koordinator des Deutschen Skiverbandes, er hat damals die Weltcup-Kurse mittels GPS vermessen, Geschwindigkeiten ausgerechnet, Belastungen erfasst, und er hat den deutschen Skirennfahrern gezeigt, wie man richtig stürzt.

Während des Auftaktwochenendes dieser Saison in Sölden fand das erste Treffen der Arbeitsgruppe statt, der neben Waibel die ehemaligen Skirennfahrer Pernilla Wiberg (Schweden), Kjetil-André Aamodt (Norwegen), Marco Büchel (Liechtenstein) sowie der 71-jährige Schweizer Trainer Karl Frehsner und der Österreicher Toni Giger angehören. Wie das Treffen war? Waibel atmet tief durch. "Ernüchternd", sagt er. Gewiss, Diskussionen sind hilfreich - welche Kompetenzen die Gruppe hat, ist allerdings noch immer nicht definiert. Einen reinen Diskussionskreis aber halten viele für den falschen Ansatz.

Schon beim Weltcup in Gröden vor einem Jahr baten die Trainer die Fis, einen unabhängigen und entscheidungsbefugten Sicherheitsbeauftragten anzustellen. "Wir brauchen einen, der die Möglichkeit hat, nach Innovationen zu scouten und Netzwerke aufzubauen", sagt Waibel. Die Fis hatte dies tatsächlich erwogen, der Posten sollte besetzt werden mit: Charly Waibel. Aber Waibel ist in seiner zweiten Saison Cheftrainer der deutschen Männer, er will den Job nicht aufgeben. Auch andere Kandidaten waren anderswo engagiert, und die Fis entschloss sich zu jener Arbeitsgruppe.

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In Sölden wurden - immerhin - Ansätze diskutiert und Berechnungen vorgestellt. Die Idee, die Geschwindigkeit durch wuchtigere Anzüge zu verringern zum Beispiel habe sich als sinnlos herausgestellt: Die Fahrer würden die verlorene Zeit durch eine geducktere Haltung in den Schusspassagen hereinholen, und sie würden sich vor Toren noch später aufrichten als bisher. Auch die These, die Carvingski seien schuld, sei nicht haltbar: Der ÖSV, sagt Giger, führe seit 1994 Verletzungsstatistiken. Seit Einführung der Carvingski vor zehn Jahren "gibt es keinen Anstieg an Verletzungen".

Eine Rückkehr zur früheren Zeit hieße vielmehr eine Rückverschiebung der Verletzungen: Die ruppigen Pisten und kaum taillierten Ski führten zu Bandscheibenproblemen, heute betreffen laut Osloer Studie beachtliche 36 Prozent der Verletzungen das Knie. Auf Anregung von Waibel testet der DSV seit einiger Zeit eine Knieschiene, die das Verdrehen des Gelenks verhindern soll. Noch aber sind die Tests nicht abgeschlossen.

Ein anderer Lösungsansatz liegt in der Bindung, die sich seit Jahrzehnten kaum verändert hat. Denkbar wäre, sagt Waibel, den Ski in bestimmten Situationen abzusprengen, als Vorbild dient die Tourenskibindung, die per Knopfdruck gelöst werden kann. Weil der Skirennfahrer aber während der Fahrt keine Knöpfe drücken kann, muss ein System entwickelt werden, das erkennt, wann das Knie so starken Kräften ausgesetzt ist, dass die Bänder reißen, wenn der Ski es weiter festhält - wie das bei Strodl der Fall war. "Wir brauchen den perfekten Algorithmus", sagt Waibel. Die Suche nach dem Algorithmus aber ist komplex, sie werde noch dauern, sagt Waibel.

Bliebe die Pistenpräparierung: In Lake Louise hat sich die Amerikanerin Lindsey Vonn beklagt, die Piste sei zu eisig. Solche Klagen sind oft zu hören. Die Veranstalter setzen häufig einen Balken ein, mit dem sie Wasser in die Pisten einspritzen und sie künstlich vereisen - wegen des Aufwands nur in manchen Abschnitten der Strecke. Die Qualität der Piste soll so auch für höhere Startnummern gleich bleiben. Das Weglassen der Vereisung, sagt Waibel, wäre eine Möglichkeit, die Gefahren zu reduzieren. Andererseits: Gerade seine, die deutschen Fahrer starten mit hohen Nummern, und auf einer unvereisten Piste, die immer furchiger wird, hätten sie noch weniger Siegchancen als ohnehin schon.

Eine Lösung also ist vorerst nicht in Sicht - schon gar nicht, so lange eine unregelmäßige Diskussionsrunde die maximale Beschäftigung bleibt. Und was die Ski betrifft: Die Uni Salzburg arbeitet derzeit mit mehreren Firmen an einem Prototypen, der die Kräfte auf die Fahrer verringern soll. Wie genau, das hätten Waibel und seine Kollegen von der Arbeitsgruppe in Sölden von den anwesenden Vertretern aus Salzburg gerne erfahren. "Aber die wollten uns nichts dazu sagen", berichtet Waibel, er atmet noch mal tief durch.

© SZ vom 04.12.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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