Ski alpin:Charles Aznavour statt Death Metal

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Erfolgserlebnis: In Zagreb wurde Clement Noël Vierter. (Foto: Borut Zivulovic/Reuters)

Das französische Slalom-Talent Clement Noël tastet sich mit 21 Jahren bereits in die Welt-Spitze vor.

Von Felix Haselsteiner, München

"Charles Aznavour oder Francis Cabrel, also die alten französischen Chansons", sagt Clement Noël. Dann lächelt er etwas schüchtern. Soeben hat er die Frage gestellt bekommen, welche Musik er am liebsten vor Rennen hört, um sich in Stimmung zu bringen; es mag eine eher unbedeutende Frage sein, im alpinen Skisport besitzt sie jedoch Aussagekraft. Dominik Paris etwa, der Abfahrer aus Südtirol, hört am liebsten Death Metal, bevor er sich auf die gefährlichsten Hänge im Weltcup stürzt. Mikaela Shiffrin, die derzeit beste Skirennfahrerin der Welt, Siegerin erst wieder am Wochenende in Zagreb, bevorzugt vor ihren Slaloms die sanften Klänge des Pianisten Ludovico Einaudi. Die Musikgattung passt in beiden Fällen zu den Charakteren, Angriffslust bei Paris, Besonnenheit bei Shiffrin. Und bei Noël, der großen Slalom-Begabung aus Frankreich, trifft diese Analogie ebenfalls zu.

"Ich bin ein wenig altmodisch", sagt Noël, 21, an einem Dezembertag, er sitzt in einer Hotelbar im französischen Val d'Isère, die Hände liegen ruhig im Schoß. Noël fährt in seiner zweiten Saison im Weltcup, doch das ist ihm kaum anzumerken. Alles, was er erzählt, wirkt durchdacht, wohlüberlegt. Weiß er ein englisches Wort nicht, lächelt er entschuldigend. Sein Auftreten ähnelt dem technisch edlen, direkten Fahrstil, mit dem Noël es in den Weltcup geschafft hat: "Ich versuche, mit meinem Kopf zu fahren, ruhig zu bleiben, wenn ich auf der Strecke bin", sagt er.

Bei den Olympischen Spielen verpasste er Bronze nur um vier Hundertstelsekunden

Ruhig zu bleiben, ist für Noël nicht so leicht, wenn man den rasanten Aufstieg studiert, den er im vergangenen Winter erlebt hat. Im Dezember 2017 sicherte er sich seine ersten Weltcup-Punkte, Anfang 2018 folgten zwei Top-10-Platzierungen. In Davos gewann er kurz darauf den Slalom bei der Junioren-WM, mit zweieinhalb Sekunden Vorsprung. Zwei Wochen später hätte Noël beinahe Bronze bei den Olympischen Spielen in Pyeongchang geholt, vier Hundertstelsekunden fehlten, er wurde Vierter. Wie am Sonntag in Zagreb, hinter Marcel Hirscher, Landsmann Alexis Pinturault und Manuel Feller. Noël ist einer, auf den die Konkurrenz verstärkt schaut, auch am Wochenende in Adelboden.

"Natürlich hat sich etwas verändert, ich werde sicher anders wahrgenommen", sagt er über seine Vorbereitung im Sommer, in der er auch deshalb bewusst nichts verändert hat. Er trainierte mit dem französischen Slalomteam in Albertville und in Argentinien. Seit zwei Jahren hat sein Skiverband die Slalomgruppe vom Rest getrennt und mit einem eigenen Team aus Physiotherapeuten, Servicekräften und Trainern ausgestattet, um eine Disziplin zu vitalisieren, in der die Franzosen seit Januar 2014 auf einen Weltcupsieg warten.

Die drei Stammkräfte im französischen Slalomteam heißen Jean-Baptiste Grange, 34, Slalom-Weltmeister von 2015, Julien Lizeroux, 39, dreimaliger Weltcupsieger, und Noël. Die Kombination aus Erfahrung und Talent ist in dieser Form selten, die Aufgabenverteilung daher klar: "Wenn wir gemeinsam reisen, brauche ich mich um nichts kümmern", sagt Noël, "Julien oder Jean-Baptiste wissen immer, wohin wir gehen. Das ist vor allem beim Abendessen praktisch", er grinst.

Doch der Erfahrungsschatz umfasst mehr als Restaurant-Empfehlungen, wie Lizeroux erklärt: "Die Mission für Jean-Baptiste und mich ist, ihn in den Ski-Weltcup einzuführen. Wir müssen ihn nicht schützen, aber wir müssen ihm zeigen, wie er mit der Aufmerksamkeit umgehen soll." Für Noël sind die Ratschläge vor allem deshalb so wertvoll, weil sie aus einem vertrauensvollen Umfeld kommen: "Sie wollen mich nicht managen, es geht ihnen nur um den größten Erfolg für das Team", sagt er. Der Altersunterschied sei kein Problem, vor allem, weil Noël für Lizeroux "der älteste 21-Jährige" ist, den er kennt: "Manchmal glaube ich, er ist der fast 40-Jährige von uns beiden". Stichwort: Aznavour.

Der große Dominator Marcel Hirscher schwärmt von der Generation um Noël

Woher kommt dieses seriöse Profil, mit dem sich Noël abhebt von anderen großen Talenten seiner Generation, die meist versuchen, fehlende Erfahrung mit wilder Entschlossenheit auszugleichen? Aufgewachsen in Ventron, einer Kleinstadt im Département Vosges unweit der deutschen Grenze, lernte er früh, für sich zu leben. Mit 15 Jahren zog er für den Winter nach Val d'Isère zum Trainieren, lebte bei einer Gastfamilie. Man konnte ihn durchaus als Hochbegabung bezeichnen: "Ich bin immer mit den Älteren gefahren, so habe ich gelernt, mitzuhalten", sagt er.

Der Österreicher Hirscher und Henrik Kristoffersen aus Norwegen dominieren Noëls Kerndisziplin seit Jahren oft konkurrenzlos. Laut Hirscher könnte das sich jedoch bald ändern, das zeigt der aktuelle Winter: "Da ist eine ganz neue Generation, die uns adaptiert hat und die uns irgendwann in den Schatten stellt", sagte er im Herbst im SZ-Interview - und verwies auf Noël. Der Gepriesene bleibt aber bescheiden: "Es macht mich stolz, dass Marcel so über mich spricht. Er kennt meinen Namen, das allein ist schon etwas Besonderes", sagt er. Beim ersten Slalom der Saison in Levi rutschte Noël vor der letzten Kuppe noch aus, wurde 26., in Saalbach-Hinterglemm überzeugte er als Siebter, in Zagreb egalisierte er sein bislang bestes Einzel-Ergebnis im Weltcup. Noël, daran zweifelt im Weltcup so gut wie niemand, wird sich im Schatten der Branchenführer nach vorne tasten - mit seiner ruhigen, direkten Linie, mit Charles Aznavour und Francis Cabrel.

© SZ vom 08.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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