Serie zur Leichtathletik, Teil 4:In einem anderen Körper

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Kelli Whites Titel von 2003 stehen für die dunkle Macht der künstlichen Leistungssteigerung - und für die Zwänge einer rücksichtslosen Sportindustrie.

F. D'Amicis / T. Hahn

Die Fragen kommen immer noch. Sie wehen herüber aus der Vergangenheit wie ein kalter Wind, und Kelli White überlegt sich jedes Mal sehr gut, ob sie sich ihnen aussetzen will. Sie hat viel zu tun. Sie ist Marketingmanagerin in Union City/Kalifornien, 32, zufrieden, ausgeglichen, längst fertig mit ihrem Leben als Profisprinterin, in dem sie einst ihr Gewissen verkaufte. Und hat sie nicht schon alles erzählt?

Kelli White bei den US-Meisterschaften im Juni 2003 - ein halbes Jahr später gab sie unter Tränen bekannt, gedopt zu haben. (Foto: Foto: AP)

Damals, als der Skandal um das Doping-Labor Balco die US-Öffentlichkeit fast täglich beschäftigte? Sie wartet nicht auf Interview-Gesuche. Wenn welche kommen, legt sie sie zunächst beiseite. Überdenkt sie später. Zögert. Bittet, die Fragen sehen zu können. Überlegt noch einmal. Und dann sagt sie ja oder nein, wobei ihr das Nein näher liegt als das Ja, gerade wenn es um die Geschichte ihrer Siege bei der Leichtathletik-WM 2003 in Paris geht, die sich nämlich nicht so einfach dahererzählen lässt im stolzen Ton der Verklärung wie andere Siegesgeschichten. Weil diese Geschichte ihrer Siege im Grunde eine unwahre Geschichte ist. Die Geschichte einer Doperin.

Erinnerungen an Paris

Es waren laute Abende damals. Über den steilen Tribünen des Stade de France lag eine brodelnde Atmosphäre. Stürme der Begeisterung fegten durch die Arena, entluden sich in donnernden Freudengewittern, wenn die Heim-Athleten gewonnen hatten, trieben die Sieger vor sich her auf lange Ehrenrunden, und der Applaus, der wie ein warmer Regen auf die Sportler niederging, schien gar nicht mehr aufzuhören. Die Franzosen feierten ihre WM als Fest der Emotionen, und natürlich brüllten sie letztlich für jeden, auch für Kelli White, die Doppelweltmeisterin aus den USA, die allerdings seltsam kalt wirkte, wenn sie die Parade ihrer Gratulanten abnahm.

Sie war in den Jahren zuvor nie als große Sprintmeisterin aufgefallen, in Paris aber war sie überlegen. Im 100-Meter-Finale riss sie schon vor dem Zielstrich die Arme hoch, mechanisch, als hätte sie jemand aufgezogen. Und bald darauf sprintete sie über 200 Meter zum nächsten Gold. Hinter ihr kämpfte Frankreichs Europameisterin Muriel Hurtis vergeblich um Bronze. Ein Orkan aus Lärm begleitete die Läuferinnen. Kelli White berührte das nicht. Sie gewann einfach nur. Trudelte aus. Spreizte Zeige- und Mittelfinger zum Victory-Zeichen für die Fotografen und sparte sich die Ehrenrunde, weil sie mitten in diesen Augenblicken des Triumphes ein schwerer Gedanke überfiel. Sie sah diesen mächtigen Abstand zwischen sich und den anderen und sie dachte: "Das ist nicht fair." Zwei Tage später meldete die Sportzeitung L'Équipe, dass Kelli White positiv auf das Psychostimulans Modafinil getestet worden sei.

Aussagen als Kronzeugin

Kelli White hockt im Schneidersitz in einem Garten in Union City. Sie sieht ganz anders aus als damals in Paris, entspannter, zierlicher, als hätte bei ihr jemand überflüssige Luft abgelassen. Und auch die Kälte aus ihren Zügen ist fort. Sie trägt ein rotes Kleid und die Haare offen, nicht mehr so streng zurückgebunden. Sie antwortet sehr konzentriert auf die Fragen nach ihrer Geschichte als Doperin, aber zwischendurch lächelt sie. Sie ist raus aus der ganzen Sache, sie kommt nur deshalb immer wieder zurück, weil sie damals vor der amerikanischen Antidoping-Agentur als Kronzeugin aussagte, Interviews gab, Vorträge hielt und deswegen als Frau gilt, die weiß, was läuft im Hochleistungssport.

Der positive Test auf Modafinil war nur der erste Hinweis auf eine viel größere Geschichte. Kelli White war Kundin des kalifornischen Nahrungsergänzungsherstellers Balco, der sich auf Dopingcocktails spezialisiert hatte, garantiert leistungssteigernd, garantiert nicht nachweisbar. Mit Modafinil allein wäre Kelli White nie so schnell geworden, es war sozusagen nur die Pille für den Wettkampf, Ergänzung zu einer Mischung aus Testosteron, dem Designer-Steroid THG und dem Blutdopingmittel Epo, mit dem sich White in den vier Monaten vor der WM aufgepäppelt hatte.

Vermeintliche Schlafkrankheit

Das wusste nur noch keiner, als sie am Tag nach der Nachricht vom Modafinil-Befund vor der Weltpresse saß, schön, streng, unbewegt. Der Wachmacher Provigil mit dem Wirkstoff Modafinil ist eine beliebte Party-Droge, aber eigentlich ein Medikament gegen Narkolepsie - Schlafkrankheit, eine ernste Sache. Daran leide sie, las Kelli White von einem Papier ab. Eine Sprinterin mit Schlafkrankheit. Wenige Tage später ließ die kalifornische Staatsanwaltschaft die Balco-Labors durchsuchen und fand vielsagende E-Mails, Kalender, Dosierungstabellen. Das war der Anfang vom Ende der Kelli-White-Lüge.

Der Balco-Skandal ist einer der mächtigsten Dopingskandale der Sportgeschichte. Eine komplizierte Affäre, die Amerika vor allem deswegen erschütterte, weil auch Profis des Nationalsports Baseball zur Kundschaft des Labors zählten sowie Marion Jones, die Dreifach-Olympiasiegerin von Sydney 2000, ein erklärter US-Liebling. Ursprung der Affäre waren Ermittlungen der Steuerbehörde, die Sportfahnder kamen der Balco-Kundschaft auf die Schliche, weil der eifersüchtige Trainer und frühere Balco-Mitarbeiter Trevor Graham eine THG-Probe an das Antidoping-Labor in Los Angeles geschickt hatte. Der Skandal gab Einblicke in die Abgründe des kommerziellen Sportsystems, dem sich im Frühjahr 2003 auch Kelli White gefügt hatte, nachdem sie lange eher zögerlich gewesen war bei den Balco-Angeboten.

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Sie war damals 26 und sie hatte ihre bisherige Karriere satt. Die ständigen Verletzungen und Schwankungen. Sie wollte hinein in das Zirkusgewerbe Leichtathletik, das ein einträgliches Geschäft sein kann für Sportler, wenn sie nur verlässlich etwas Besonderes zeigen. "Wenn du 11,05 Sekunden auf 100 Meter läufst, kommst du normalerweise in so ziemlich jedes Rennen", sagt Kelli White, "aber wenn du an einem Tag durch einen Zufall etwas langsamer läufst, weil du dich nicht gut fühlst, wirst du kein Rennen mehr haben." Also ließ sie sich von Balco mit der hauseigenen Doping-Rezeptur versorgen und folgte streng den Dosierungsangaben. Rieb sich mit der Testosteron-Creme ein. Schluckte die THG-Pillen. Spritzte sich Epo. "Ich habe dabei gar nichts gefühlt. Ich habe gesagt: Das mache ich jetzt. Und das war's."

Besessen vom Training

Und dann veränderte sie sich. Kelli White spürte, wie die Drogen sie rastlos machten. "Ich wurde wie eine Trainingsverrückte." Statt einmal am Tag trainierte sie jetzt zweimal. Manchmal dreimal. "Sechs Stunden plus täglich. Harte Einheiten. Dann in den Kraftraum. Gewichte stemmen. Wieder raus. Noch mehr trainieren." Es gab keine Verletzungen mehr, keine Müdigkeit, und die Nebenwirkungen ihrer Verwandlung zur Muskelfrau nahm sie hin. Die Steroid-Akne, ihre aufgepumpten Schenkel, die in keine ihrer Jeans mehr passten, ihre unregelmäßigen Monatsblutungen. Sie sagte sich: "Wenn du schon das Risiko auf dich nimmst, mach' es richtig." Ob sie sich damals gehasst habe, wenn sie in den Spiegel sah und dieser veränderten Kelli White begegnete? "Nie", sagt Kelli White.

In Paris war sie dann ganz das Ergebnis ihrer Drogen: "Ich sah eigentlich aus wie eine Maschine auf der Bahn." Es stimmt, sagt sie, sie fühlte sich wie eine Comic-Figur, die aus ihrem Alltag in einen Zustand übermenschlicher Kraft getreten war. Wie Superwoman. "Ich wusste, ich konnte einen schlechten Start haben und immer noch mit fünf Metern Vorsprung gewinnen. Im Wettkampf fühlte ich mich fast, als würde ich gleiten."

"Du bist nicht die Einzige"

Es war Betrug, so sieht Kelli White das heute. Damals aber traten die Skrupel zurück hinter das Bewusstsein, dass nicht nur sie eine künstliche Kraft antrieb. Kelli White sagt: "Wenn du ein Rennen anschaust und die Kamera über die Bahnen schwenkt, kannst du sehen, dass jeder etwas macht. Dann fühlst du dich nicht mehr schuldig. Weil dir klar wird, dass du nicht die Einzige bist."

Als sie von ihrem Modafinil-Befund erfuhr, war sie gerade einkaufen auf den Champs-Élysées. Ihre Mutter war dabei, aber Kelli White erinnert sich nicht mehr daran, was sie sagte: "Ich war zu beschäftigt mit der Frage, was wir als Nächstes machen." Sie erinnert sich nur an die erste Reaktion von Remi Korchemny, ihrem alten Trainer aus der Ukraine, der sie zu Balco gebracht hatte, ihr Doping unterstützte und später wegen der Weitergabe von Dopingmitteln zu einer Gefängnisstrafe auf Bewährung verurteilt wurde. Er sagte: "Tja, dann werden wir die nächsten zwei Jahre nur trainieren." Kelli White sagt, das habe ihr das Herz gebrochen. "Weil es sich anhörte wie: Oh Mann, du hast alles vermasselt."

Karriere im Eimer

Die Staatsanwaltschaft brachte die Details ihrer Balco-Verbindung ans Licht. Das Geständnis war die letzte Chance, ihr Gewissen wenigstens etwas zu reinigen, ihre Karriere war ohnehin kaputt. Der Weltverband IAAF strich ihre Ergebnisse seit 2000, sie verlor mehr als 600000 Dollar Prämiengeld und ihren Ausrüstervertrag von Nike. Nur die Sperre blieb milde. Zwei Jahre, als Lohn für ihre Offenheit. Aber Kelli White kehrte nicht zurück.

Sie will nicht ablenken von ihrer Schuld. Aber diese Zirkus-Leichtathletik, die Superfrauen bevorzugt, ist nichts mehr für sie. "Die ganze Situation hat bei mir einen solch bitteren Geschmack hinterlassen über Manager, Trainer, Meeting-Direktoren, Schuhfirmen, dass ich damit nichts mehr zu tun haben wollte." Sie spricht ganz ruhig, in ihrem Gesicht liegt immer noch diese weiche Freundlichkeit. Aber ihre Worte sind hart.

"Ich glaube, die Schuhfirmen stecken alle mit drin. Ich habe E-Mails gesehen zwischen Leuten, die offiziell nie wussten, dass ich das Zeug nahm. Die begeistert waren davon, dass ich angefangen hatte zu dopen. Das hat mir die Augen geöffnet, wie die Leben von uns Athleten nur ein Spiel zu sein scheinen, und ein Experiment."

Kelli White war zehn, als sie zur Leichtathletik kam. Und wenn sie nochmal zehn wäre? Wenn sie nochmal von vorne anfangen könnte? "Ich würde Golf machen. Oder Tennis." Kelli White lacht. "Ich würde einen anderen Sport wählen." Mit der Leichtathletik ist sie fertig.

Teil V der Serie folgt am 8.August. Bisher erschienen: Patriz Ilg, Hindernis-Weltmeister 1983, über den Wandel zum Kommerzsport (11. Juli), Mike Powell, Weitsprung-Weltmeister 1991, über sein Duell mit Carl Lewis (18. Juli), Heike Drechsler über ihren Weitsprung-Titel für das vereinigte Deutschland 1993 (25. Juli).

© SZ vom 01.08.2009/jbe - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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