Schweiz:Kitsch pur

Euro 2020 Qualifier - Group D - Switzerland v Georgia

„Ich kann noch gar nicht glauben, was in den letzten Tagen passiert ist“: Cedric Itten beim Torjubel mit Ruben Vargas vom FC Augsburg und Renato Steffen vom VfL Wolfsburg (v.r.).

(Foto: Arnd Wiegmann/Reuters)

Die Schweiz ist fast sicher für die EM qualifiziert - weil Cedric Itten vom FC St. Gallen in St. Gallen und in seinem ersten Spiel für die "Nati" zum 1:0 gegen Georgien trifft.

Von Fabian Ruch und Thomas Schifferle, St. Gallen

Sogar ein Security-Mitarbeiter des Stadions klatschte mit dem Schweizer Angreifer Cedric Itten ab. Er umarmte ihn lange und gratulierte ihm. Denn Cedric Itten hatte zuvor das triste, teilweise trostlose Länderspiel der Schweizer gegen Georgien mit seinem Auftritt aufgehübscht. Sechs Minuten nach seiner Einwechslung hatte der Angreifer, den außerhalb der Schweiz bislang kaum jemand kennt, das 1:0-Siegtor erzielt und damit die Schweizer EM-Teilnahme 2020 gerade noch so, kurz vor der Zielgeraden der Qualifikation, beinahe sichergestellt. Gegen Gibraltar reicht den Schweizern nun am Montag bereits ein Nullnull.

Itten, 22, vom FC St. Gallen war daher die große Figur des Freitagabends. Gleichzeitig sprach er in 15 Mikrofone, immer wieder erzählte er von seiner "unglaublichen Geschichte". Von der schweren Verletzung nach einem brutalen Foul von Verteidiger Fabio Daprelà vom FC Lugano am 23. September 2018, seinem Innen- und Kreuzbandriss, der monatelangen Reha, der Rückkehr, dem guten Saisonstart mit dem FC St. Gallen in der obersten Schweizer Liga. Und, das vor allem, von seinem märchenhaften Einstand im Nationalteam. "Ich kann noch gar nicht glauben, was in den letzten Tagen passiert ist", sagte er. Und zählte gleich selber auf, was das alles ist: "Zuerst das nachträgliche Aufgebot, weil Josip Drmic ausfiel." Der frühere Mönchengladbacher Stürmer, inzwischen bei Norwich City, musste seinen Einsatz für die Schweiz wegen einer Oberschenkelverletzung absagen. "Dann das erste Training", sagte Itten weiter, "die Einwechslung, das Tor, die riesigen Emotionen. Und das alles hier in St. Gallen, vor meiner Familie, der Freundin, vielen Freunden und Bekannten."

70 Minuten waren am Freitagabend gespielt, als er für Albian Ajeti eingewechselt wurde. "Itten! Itten!", rief das Publikum. Peter Zeidler machte das auch - und neben ihm sein Präsident Matthias Hüppi. Der Schwabe Zeidler, einst Jugendtrainer beim VfB Stuttgart und bei den Profis der TSG Hoffenheim Assistent von Ralf Rangnick, ist Ittens Vereinstrainer in St. Gallen und ein emotionaler Mensch, der sich gerne mitreißen lässt, wenn sich der Moment dafür bietet. Und so erzählt Zeidler noch am Morgen danach in einem St. Galler Café davon. Die Zeitungen hat er bereits gelesen. "Alle sind stolz, dass das Länderspiel hier gewesen ist, dass Itten dabei gewesen ist", sagt Zeidler.

Am Samstagmittag trainieren die Nationalspieler auf der Sportanlage Gründenmoos, zumindest jene, die am Abend zuvor nicht auf dem Platz gestanden haben. Die anderen sind im Hotel geblieben, aber Itten ist da. Er ist plötzlich ganz vieles: Lokalheld, Sympathieträger, Aufsteiger des Moments. "Ich bin sehr dankbar, dass ich das erleben darf", sagt er, "und ich werde mich immer an diesen Abend erinnern."

Er habe nicht besonders viel geschlafen, sagt er, dafür ausgezeichnet. Und er habe längst noch nicht alle Glückwünsche beantworten können, allein 99 Meldungen seien es auf Whatsapp gewesen. Sein Trikot hat er mitgenommen, es wird einen Ehrenplatz im Wohnzimmer bekommen. Und der Ball, mit dem er getroffen hat, wird ihm noch zugeschickt werden. Itten ist gebürtiger Basler und als Fan des FCB groß geworden. Einst war er selbst Basler Jugendspieler, 2016 gab er mit 19 sein Debüt in der ersten Liga, lief auch für Schweizer Juniorennationalmannschaften auf. Doch in Basel konnte er sich nicht bei den Profis durchsetzen.

Daher ging er im Sommer 2018 schließlich nach St. Gallen, wo Zeidler gerade seine Arbeit aufgenommen hatte. Itten spürt Zuneigung, gerade nach seiner schweren Verletzung. Zeidler bewundert ihn dafür, wie er die Zeit der Reha meisterte: Itten habe nie geklagt, nur vorwärts geschaut und gearbeitet, um seinen Traum eines Tages erfüllen zu können - Nationalspieler zu werden. Einen Monat vor seinem 23. Geburtstag hat er dieses Ziel nun erreicht.

Ittens Begeisterung steht im Kontrast zu den oft routinierten Wortmeldungen vieler Nationalspieler. Und sie überstrahlte den mühsamen Schweizer Arbeitssieg gegen Georgien. Unter Zeidler hat er sich zu einem Spieler entwickelt, der nicht nur als Sturmspitze zur Entfaltung kommt, sondern auch im offensiven Mittelfeld. "Er denkt und rennt für die Mannschaft", sagt sein Trainer, "das schließt aber nicht aus, dass er das Tor machen will, wenn er die Chance dazu sieht." Gegen Georgien war er entscheidend an der Entstehung des Angriffs beteiligt, den er schließlich selbst abschloss. Er spürte, wohin er den Kopfball nach der Flanke des Gladbachers Denis Zakaria lenken musste. Zeidler findet einen Tag danach immer noch, dass man so eine Geschichte nicht erfinden könne: "Sonst denkt man nur: Das ist Kitsch pur."

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