RB Leipzig:"Genießen wir nur die Aussicht?"

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„Es geht darum, dass wir die letzten paar Prozentpunkte finden“: RB-Trainer Julian Nagelsmann verzweifelt bei 0:2 in Frankfurt. (Foto: imago)

Leipzig bleibt Tabellenführer - aber Julian Nagelsmann überrascht mit harscher Kritik. Nicht nur beim 0:2 in Frankfurt zweifelt der Trainer, ob sein Team bereit ist für die ganz hohen Ziele.

Von Johannes Aumüller, Frankfurt

Einmal hätte auch gereicht. Die Worte und Bilder seiner Schelte wären auch so ins Fußballland gegangen. Aber einmal reichte RB Leipzigs Trainer Julian Nagelsmann offenbar nicht nach diesem unerwarteten 0:2 seiner Mannschaft bei Eintracht Frankfurt. Also sprach Nagelsmann die Grundsatz-Kritik an seinen Spielern zuerst ins Mikrofon des Bezahl-TV, danach in das des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, und schließlich wiederholte er sie auch noch in der Pressekonferenz.

Manchmal glichen sich Nagelsmanns Passagen exakt, manchmal variierte er die Worte etwas. Aber zurück blieb eine Unmuts-Collage, die doch recht ungewöhnlich wirkte - insbesondere, weil sein Team auch nach dem 19. Spieltag noch die Tabelle anführt. Und weil es doch meistens in dieser Saison die Erwartungen eher übertroffen als enttäuscht hatte.

Trainer Nagelsmann sagte nun also dies: "Wir sind weit weg von einer Spitzenmannschaft." Zudem dies: "Die Entscheidung trifft jeder für sich, ob er ein Gewinner sein will und etwas reißen will." Nicht zu vergessen dies: "Wir sind nicht auf einem Niveau mit Bayern und Dortmund, müssen deshalb jede Trainingsminute besser nutzen. Ich weiß nicht, ob das jeder Spieler verstanden hat." Und besonders angetan hatte es Nagelsmann, der seinen Urlaub gerne in den Bergen verbringt, der Vergleich mit einem alpinen Aufstieg.

"Wollen wir das Gipfelkreuz erreichen oder bleiben wir kurz darunter stehen und genießen die schöne Aussicht?", fragte er mehrfach. Wo er sich selbst in dieser Frage positioniert, brauchte er nicht extra hinzuzufügen. Die Aussicht genießen? Das ist eher nichts, was Nagelsmann befriedigt.

Die Saison 2019/20 ist nun mal eine, in der sich unerwartete Chancen auftun. Und Julian Nagelsmann will sich nicht nachsagen lassen, dass er nicht zumindest alles versucht, um das zu nutzen. Als vor einem Jahr Borussia Dortmund die Tabelle anführte, klang der Trainer Lucien Favre immer so demonstrativ zurückhaltend, dass hinterher diese demonstrative Zurückhaltung als Hauptgrund dafür galt, warum der FC Bayern doch noch vorbeiziehen konnte. Wenn es am Saisonende bei RB Leipzig nichts wird mit dem Titel, wird kaum jemand in der Analyse auf die Idee kommen, eine demonstrative Zurückhaltung des Trainers zu kritisieren.

Der Vorsprung in der Tabelle auf den FC Bayern ist auf einen Punkt geschmolzen

Aber Nagelsmann wurmt offenkundig, dass das in Leipzig nicht jeder so sieht und lebt wie er. Dass es nach seinem Empfinden seinem Team am Titelwillen fehlt - und offenkundig an der notwendigen Einstellung im Training. Die Trainingszeit müsse stimmen; im Elf gegen Elf unter der Woche habe es an Elan und Engagement gefehlt, wie im Übrigen schon manches Mal vor der Winterpause; und es sei im Training nicht zu spüren gewesen, dass die Spieler brennen, um deutscher Meister zu werden. "Es geht darum, dass wir die letzten paar Prozentpunkte finden", sagte Nagelsmann. Da müsse man dann den Finger in die Wunde legen. "Deshalb haben sie mich ja auch geholt, glaube ich."

Es gehört zu Nagelsmanns Stärken, dass er nicht lange rumdruckst, wenn ihm etwas nicht passt. Und es ist natürlich auch ein passender Moment für Kritik, wenn ein Trainer für sich grundsätzliche Missstände identifiziert hat: Erstmals nach neun Spielen (acht Siege, ein Remis gegen Dortmund) verloren die Leipziger nun wieder. Der Vorsprung in der Tabelle auf die Münchner ist auf einen Punkt geschmolzen. Zudem stehen nun ausgerechnet die Partien gegen die unmittelbaren Verfolger Mönchengladbach und FC Bayern an. Das sind zwei Wochen, in denen sich in der Leipziger Bergwanderung schon so manches entscheiden kann, nicht zuletzt emotional. Es hat schon genügend Beispiele gegeben, in denen eine unerwartete Niederlage und ihre Umstände sich als rechtzeitige Warnung erwiesen haben.

Doch zugleich kommen solche rhetorischen Absetzbewegungen in einer Mannschaft oft auch nicht so gut an. Linksverteidiger Marcel Halstenberg lobte am Abend im ZDF-Sportstudio zwar den Trainer für seine Worte und gestand auch ein, dass es bei den jüngsten Trainingsspielen nicht immer Vollgas zur Sache ging. Aber die Mannschaft sei doch schon "gierig", sagte er.

Zudem war zumindest die erste Halbzeit am Samstag gar nicht so schlecht gewesen von RB. Frankfurt versuchte es zwar mit einer sehr kompakten Formation, aber Leipzig war klar überlegen. Timo Werner tauchte frei im Strafraum auf (12.), Christopher Nkunku (17.) und Patrik Schick (18.) schossen aus der Distanz. Doch alle drei scheiterten an SGE-Torwart Kevin Trapp.

Aber schon mit dieser ersten Hälfte war Nagelsmann nicht richtig einverstanden. Seine Mannschaft habe im letzten Spielfelddrittel zu unsauber gespielt, zu oft die falsche Entscheidung getroffen und den Raum zwischen den Linien nicht genutzt. Aber völlig unzufrieden wurde er nach dem Seitenwechsel und dem plötzlichen Rückstand durch Almamy Tourés schönen Distanzschuss (48.). Da fand Leipziger gar keine Mittel mehr, "zu wenig Struktur", monierte Nagelsmann. In der Nachspielzeit vollendete Filip Kostic zum 2:0.

Leipzigs Trainer und seine Mannschaft haben nun also allerhand aufzuarbeiten bis zu den beiden Top-Spielen gegen Gladbach und München. Aber dem passionierten Alpinisten dürfte klar sein: Beim Aufstieg zum Gipfel hängt auch viel davon ab, wie sich der Bergführer präsentiert.

© SZ vom 27.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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